W.G. Sebald auf der Pariser Bühne

Paris, 26. Januar 2024  Am Odéon, „Théâtre de l´Europe“ wurde jüngst ein Stück des polnischen Theaterautors und Regisseurs Krystian Lupa uraufgeführt, es basiert auf zwei Texten aus der Novellensammlung „Die Ausgewanderten“ von W.G. Selbald (1944-2001). Ich möchte einige Impressionen von einem Theaterabend dieser Woche wiedergeben, mich hatte besonders interessiert, wie Lupa die charakteristischen Stimmungen und die Atmosphäre in der Literatur von Sebald auf die Bühne bringt. Die Narration ist ausgreifend, wie üblich bei Lupa, das Stück dauert 4 Stunden 15 Minuten. Doch in der Pause nach zwei Stunden verließ nur ein kleiner Teil des Publikums (ca 10%) das Theater durch das große Portal, was schon ein Erfolg ist, denn den Zuschauenden wird einiges an intellektueller und emotionaler Beteiligung abverlangt. Neben…

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Rothko in der Fondation Louis Vuitton

Paris, 24.1.2024  „Rothko malt die Wahrheit“, dieser Satz klingt wie ein Paradox, wenn man an die ikonischen Bilder von radikaler Abstraktion denkt, für die dieser Maler der Moderne steht. Den Satz schreibt Abdelwahab Meddeb in einem Buch mit seinen Wanderungen durch die „rote, gesegnete Stadt“. das ich im Moment übersetze. Die Reflektionen und Tagebucheinträge des tunesisch-französichen Intellektuellen wird in diesem Jahr posthum in Frankreich und Deutschland erscheinen. Mit dem Besuch der großen Ausstellung von Mark Rothko in der Fondation Louis Vuitton wollte ich dieses Paradox womöglich auflösen. Vielleicht hatte ich die „Klassiker“ des Malers nicht verstanden, „die in zwei oder drei Registern Rechtecke übereinander anordnen, die undeutlich konturiert und von leuchtender Farbe sind.“(Text der Schau) Tatsächlich hatte ich noch nie…

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Ensembles

Paris, 25.09.2023  Der Blog wird immer noch umgestaltet. Als Intermezzo wollte ich ein paar Fotos zeigen,   dann geriet ich wie zufälllig in eine Ausstellung im Centre Pompidou, mit dem Titel Corps à Corps, was zunächst „Nahkampf“ heißt, und mit dem Untertitel Histoire(s) de la photographie auf die verschiedene Geschichten dieser Kunstgattung hinweist (bis zum 25.März 2024) Der quasi militärische Unterton ist von den Kuratoren gewollt, denn sie möchten auf den Aspekt der normativen, administrativen Anwendung der Fotografie hinweisen, um den Einzelnen zu strukturieren und zu kontrollieren. Erwähnt wird hier Michel Foucault und sein sozio-philosophischer Diskurs in Überwachen und Strafen. Ich habe mir das Zitat von Chris Marker gemerkt, es scheint in diesem Zusammenhang zu stehen, durchbricht ihn aber in…

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Aktionstag No 14

    Paris, 06.06.2023  Für heute wurde von den französischen Gewerkschaften und Verbänden zum vierzehnten Mal ein Aktionstag gegen die von der Macron-Regierungen geplanten und ohne parlamentarische Debatte und Abstimmung durchgezogenen Reformvorhaben festgesetzt. Es steht nur noch am kommenden Donnerstag das Durchwinken im Parlament an, denn dessen Präsidentin hat vor, den Verfassungszusatz 40 anzuwenden, der jede Erörterung und jedes Aushandeln, etwa von eingegangenen letzten Änderungsvorschlägen der Opposition, auszuhebeln vermag, falls diese den Haushalt gefährden könnten. Der heutige Tag beginnt in aller Frühe mit einem Banner an der Fassade des ehrwürdigen Hotel de Ville, auf dem mit Emojis die Solidarität des Rathauses mit der Protestbewegung ausgedrückt wird, die am Nachmittag einen ihrer großen Demonstrationszüge durch die Stadt plant. Die sozialistische Bürgermeisterin, Anne…

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Recherche in Die wiedergefundene Zeit

Paris, 18.01. und Freiburg, 27.01.2023  Proust hat offenbar selbst gemeint, dass von seiner Recherche die vier ersten Bände und der letzte mit dem Titel Die wiedergefundene Zeit unbedingt zu lesen seien. Da dieser Titel den Eindruck erweckt, es seien in dem Buch alle Probleme gelöst, die der Erzähler in seinem früheren Leben ausgebreitet hat, meinte ich lange, dass die Zeit für diese Lektüre für mich noch nicht gekommen sei. Ich spreche nie über mein Alter, nur über „mein Leben“, die Zeitlichkeit fließt hinein und für mich verbunden mit einer tiefen Dankbarkeit. „Das Leben“ umfasst alle Grundlagen der Persönlichkeit, der Seele, will man diesen aus der Mode gekommenen Ausdruck wieder bemühen, alle erlebten Momente mit ihren vielfältigen Ressourcen, von der Kindheit…

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Yvonne, von Gombrowicz

Paris, 16.01.2023  Am Samstagabend hörte ich die erste Lesung dieses Theaterstücks des polnischen Schriftstellers von einer jungen Kompanie, die sich Brûler Détruire nennt. Der Ausruf:„Brennen, Zerstören“ stammt übrigens ebenfalls aus dem Text. Die Truppe wird das Stück ab dem 31.Januar in Paris aufführen, und zwar im 19. Arrondissement. Ätzend, witzig, schonungslos drücken sich in dem Stück Frauenfeindlichkeit, elitärer Menschenhass einer Königsfamilie aus, jede erdenkliche Bosheit gegen eine Person, die als minderwertig oder schwach wahrgenommen wird, eine Frau, in diesem Fall eine junge Prinzessin, die so bis zum allerletzten Verstummen getrieben wird. Grotesk und ganz im Stil von Gombrowicz, der den Menschen und seine „Fresse“ an den Rand des Menschlichen, bis zum Unaussprechlichen treibt. Witold Gombrowicz (1904-1969), der große polnische Schriftsteller…

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Racine im Quadrat

Paris, 18.11.2022  Das Theater-Event dieses Herbstes in Paris ist ein Werk in drei Stücken von Wajdi Mouawad im Théâtre de La Colline. Man kann sie hintereinander weg ansehen, es dauert sechs Stunden. Ich habe diese Erfahrung auf mich genommen und es überhaupt nicht bereut. Der Titel im Französischen Racine carrée du verbe être heißt auf Deutsch „Quadratwurzel des Verbs Sein“, er weist auf den metaphysischen Gehalt, der durchaus präsent ist, aber auch auf die „Wurzel“ – und das Theaterwerk befasst sich tatsächlich mit den Wurzeln von Bäumen, aber vor allem auch von Menschen aus dem Libanon, die vor den politischen Explosionen in Serie aus ihrem Land geflohen sind. In dem Stück haben die Protagonisten immer den selben Namen, Talyani Waqar…

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Racine carrée du verbe être

Paris, 18.11.2022  L´évènement théâtral de l´automne á`Paris est une oeuvre en trois pièces de Wajdi Mouawad au Théatre de la Colline. On peut les regarder d´affilée, ce qui dure six heures. Je l´ai fait et je ne l´ai pas regretté du tout. Racine carrée du verbe être parle à la manière de Jean Racine, je pense, mais aussi des racines – notamment celles de Libanais qui ont dû fuir les explosions politiques en série de leur pays. Dans la pièce, les réfugiés protagonistes sont tous nommés Talyani Waqar Malik, mais leurs vies dans leur pays d´exil européen (France, Belgique, Suisse, Italie) prennent différentes directions: un Talyani est professeur-chercheur, un autre chauffeur de taxi etc., et par conséquent, les conjointes prennent…

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Halb fünf

Paris, 13. 10. 2022  Immer wieder nett dieses französische Ritual vor den Schulen, um halb fünf am Nachmittag, der Unterricht geht zu Ende und es bilden sich Schlangen vor den Gebäuden mit der Trikolore, wenn Mütter, Großmütter, Großväter oder Väter einträchtig darauf warten, dass die Kleinen herauskommen. Jetzt begegnet man überall Kindern, die an ihrem Goûter knabbern. Wegen der großen Rolle, die sie im Familienleben spielt, ist diese Spezialität nur mit dem englischen Teatime zu vergleichen. Das Goûter besteht meist aus ein paar Keksen, die sich in unzähligen Sorten in den Supermärkten stapeln, häufig speziell zu diesem Zweck verpackt. Auch beim Kinderarzt gelten die Nachmittagskekse oder sonstigen Leckereien übrigens als die vierte Mahlzeit! Da kommt der kleine Junge mit seiner…

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Promenade Edouard Glissant an der Seine

Paris, 11. Oktober 2022  Vor einem Jahr wurde die Promenade Edouard Glissant an der Seine eingeweiht, im September 2021 und zehn Jahre nach dem Tod des „Schriftstellers, Dichters und Philosophen aus Martinique“, wie auf dem Straßenschild steht. Mit dieser Promenade direkt am Wasser ist Glissant in guter Gesellschaft. Parallel gegenüber, auf der anderen Seite der Seine liegt der Quai Aimé Césaire, in Erinnerung an den martinikanischen Dichter und Politiker, der Glissants Lehrer am Lycée und vor allem sein großes Vorbild in der Poesie war. Es gab allerdings auch den Generationenkonflikt zwischen ihnen. Dafür verbindet sie nun die schön geschwungene Fußgängerbrücke, die Passerelle Léopold Sédhar Senghor. So sind die Vordenker der Négritude mit dem vereint, der sie mit seinem Denken der…

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