Aktuelles

Beate Thill – Paris-Blog – Franco Allemand

Dany Laferriére: Granate oder Granatapfel, was hat der Schwarze in der Hand?
Verlag Das Wunderhorn 2021

dazu der Link:

https://www.toledo-programm.de/journale/3091/es-ist-eine-frucht

 

Meine Empfehlung zur Lektüre in der Krise:

ein Roman nach Robinson Crusoe

Patrick Chamoiseau:
Die Spur des Anderen

Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg. 272 Seiten, gebunden, HardcoverErscheinungsjahr: 2014 | sofort lieferbar | ISBN: 978-88423-444-0 | 24,80 EUR

Exposé

Edouard Glissant: Philosophie der Weltbeziehung

und ein Link:

https://www.toledo-programm.de/journale/3582/von-der-hohe-der-berge-bis-auf-hohe-see

Paris (Gallimard)  2009 | deutsch: Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg, 2021

Gedanken für das 21. Jahrhundert

„Was sich heute irgendwo auf der Erde ereignet, hallt unmittelbar auch hier nach.“ (Edouard Glissant) Dies beschreibt eine Weltlage, die in den letzten Jahren durch die fulminante wirtschaftliche Globalisierung und die Verbreitung der elektronischen Medien hergestellt wurde, über die verschiedenste und häufig beängstigende Nachrichten in den Alltag eines jeden hereindringen. Wie können die Menschen mit dem entstehenden Gefühl der Unübersichtlichkeit und Verunsicherung umgehen? Dies ist eine zentrale, über die Zukunft des Planeten entscheidende politische, kulturelle, soziale Frage. Über sie ist ein Streit entstanden, der heute in der alltäglichen politischen Auseinandersetzung angelangt ist. Die politischen Reaktionen geben häufig der Angst und der Abwehr nach, die dieser Weltzustand bei den Menschen hervorruft, und gehen in populistischer Vereinfachung bis zu Ressentiment und Hass gegen alles Unbekannte und Fremde. Das Gefühl der Überforderung breitet sich gerade in den immer noch privilegierten, wohlhabenden Staaten Europas und des übrigen Westens aus, der den Rest der Welt lange beherrscht hat und an ein Leben in Wohlstand und materieller Sorglosigkeit gewöhnt ist. Dass wir uns jedoch in Europa von solchen Ansprüchen und einem illusorischen „Normalzustand“ verabschieden müssen, ist inzwischen in das alltägliche Bewusstsein gedrungen. Durch die derzeitige weltumspannende Corona-Krise wurde diese Tatsache noch einmal in aller Deutlichkeit aufgezeigt.
Edouard Glissant (1928-2011) stammt von der französischen Karibikinsel Martinique. Die Mehrheit der dortigen Bevölkerung sind Nachkommen ehemaliger afrikanischer Sklaven. Nach Glissant haben diese „nackten Migranten“ aus der Erfahrung des metaphysischen Bruchs von Verschleppung und Sklaverei eine zusammengesetzte,„komplexe“ Weltsicht entwickelt, die unserer Weltlage angemessener ist als das vorherrschende westliche Denken. Von seiner Insel bringt Glissant außerdem die Erfahrung eines Zusammenlebens mehrerer Kulturen ein. Die Bevölkerung Martiniques setzte sich früher aus den europäischen Kolonisatoren, Resten der ausgerotteten indianischen Ursprungsbevölkerung, afrikanischen Sklaven sowie asiatische Kontraktarbeitern zusammen – heute wird sie von den Nachkommen all dieser Gruppen gebildet. Aus dieser Perspektive befasst sich Glissant schon seit den 1980er Jahren mit dem Zusammenwachsen der Welt und dem Zusammenprall der Kulturen.

Glissant ist der Denker der kulturellen Seite der Globalisierung, er sieht sie auch positiv, als Verwirklichung eines Menschheitstraums. Wir leben „in einer Welt, die sich erstmals wirklich auf unvermittelte und unmittelbare, bahnbrechende Weise selbst wahrnimmt als vielfältig und eins und aufs engste verknüpft.“[1] Diese Empfänglichkeit aller Menschen für die „Eine Welt“ bezeichnet er mit Mondialität. Doch fährt er fort:„Das bringt auch mit sich, dass jeder die Art und Weise ändern muss, wie er auf dieser Welt etwas wahrnimmt, wie er lebt und wie er reagiert.“

Seine Schriften enthalten daher stets eine Kritik an dem Verharren in ehemals geltenden und noch herrschenden Vorstellungen, die nach seiner Auffassung in die Sackgasse von Nationalismus, Profitgier, der egoistischen Verfolgung der Interessen der entwickelten Länder sowie der Deklassierung und fortgesetzten strukturellen Ausbeutung des globalen Südens führen. Daneben bietet er mit kultursoziologischen Betrachtungen und einer Reihe konkreter theoretischer Erwägungen zahlreiche intellektuelle Anregungen, wie eine andere Weltsicht und damit ein Umdenken möglich wäre – sein Denken ist der Zukunft zugewandt und in seiner Intention politisch.
Er versucht vor allem die im hergebrachten Denken üblichen Binaritäten zu vermeiden, seine Betrachtungen sind nicht polarisierend, sondern er beschreibt stets die Spannungsverhältnisse, Zusammenhänge, Punkte des Austauschs zwischen den gegensätzlichen Polen. So entgeht er der Gefahr des Denkens in Dichotomien und Ideologemen, seine „komplexe“ Sicht ist stets auf das Detail, die Differenz, den konkreten Fall bezogen. Ein solches Denken ist jedoch keineswegs harmlos oder „weichgespült“, Glissant schlägt vielmehr eine ganz neue Perspektive vor, die wirklich subversiv ist. Unrecht und Ungerechtigkeit werden klar benannt, er bemerkt etwa (im Jahr 2009), dass die herrschende Sicht der Welt „nicht nur Not und Elend der Völker ignoriert, sondern auch die Zerstörung unseres Planeten.“ (P S.84)
Sein Umdenken ist radikal, indem es sämtliche Gewissheiten, die mit der Dominanz in der Welt einherging und einhergeht, über Bord wirft.
So ist das Tout einer unendlichen Akkumulation jenes positive »Alles«, das Glissant vorschwebt, wenn er sein zusammengesetztes Nomen Tout-Monde (dt. All-Welt) erfindet, oder wenn er von Totalität spricht. In dieser Akkumulation der Beschreibungen ist die Welt total unüberschaubar und doch endlich. Dem steht die okzidentale Auffassung von Totalität als Machtanspruch (bis zum Totalitarismus) entgegen.

Wie stets stützt sich Glissant in Philosophie de la Relation auf seine früheren Essays, ohne die Lektüre jedoch vorauszusetzen, er scheut sich nicht, seine Gedankengänge neu zu beginnen und zu wiederholen, während er sie in verschiedene Situationen einbettet und jeweils anders beleuchtet. Er weist auch mehrfach auf den vorangegangenen Essay Une nouvelle région du monde (2006) als Grundlage hin. Dort suchte er nach einer Definition für unsere Epoche des 21. Jahrhunderts, definierte sie als eine neue Region der Welt, und gab seiner Erkundung dieses Neulands die Form eines langen Brainstorming („divagation“). Was er dort bei seinem Nachdenken über die Beziehung zur Welt und zum Anderen weiterentwickelt hat, vor allem mit einer Betrachtung der bildenden Künste, führt er nun besonders für die Literatur aus (schon der Untertitel weist darauf hin) mit dem Ziel, dies in einer „nicht-systemischen“ Philosophie zusammenzuführen.

Das 21. Jahrhundert verlangt einen ganz neuen Ansatz, eine Philosophie mit neuen Antworten und vor allem neuen Fragen.
Glissant drückt das ganz Neue mit einem Paradox aus: eine Epoche, die auch eine Region, die Neuland ist – obwohl doch unser Globus inzwischen bis in den letzten Winkel bekannt und entdeckt ist. Es handelt sich also um ein imaginäres Neuland, ein Neuland in der Vorstellung, das alle zusammen betreten.
Am Ende von Une nouvelle région stellte Glissant eine Verknüpfung zwischen Kunst und Philosophie her, mit einem Begriff von Schönheit, der aus seiner neuen Vision von der Welt hervorgeht.
„Denn die Schönheit enthüllt oder erschließt sich in einer Vision von der Welt.“(R S.124)
Sie weist auf das unablässige Werden hin.
„La beauté est le signe de ce qui, là, va changer – Die Schönheit ist das Zeichen, dass sich gleich hier etwas verändern wird.“ (R S. 107)

Zu dieser ästhetischen, von der Schönheit der Welt getränkten Vision entwickelt Glissant eine neue Auffassung von Sein und Seiendem. Bisher sah die Philosophie eine Spannung des Seienden hin zum Sein. In Une nouvelle région du monde regt er an:
„Aber ist es nicht vorstellbar, dass das Seiende, ohne jede Transzendenz in seiner Gesamtheit und Vielzähligkeit als weltumspannendes Mana[2] .. sich entwickelt und fließt wie wir es von der Geologie oder dem Klima kennen – wie die unterirdischen Lavamassen der Planeten?“
„Könnten wir uns das Seiende einmal nicht als schlichtes Arbeitskleid oder gar als Lumpen des Seins vorstellen, sondern als das, zu dem es unablässig wird, als die realisierte Quantität aller Differenzen der All-Welt und der Welt, ohne eine einzige Ausnahme“. (R S.43)[3]

Am Anfang aller Künste, in den Höhlenmalereien, drückte sich nach Glissant eine mythische Einheit der Dinge auf der Welt aus, einer Ununterschiedenheit, die sich später differenzierte. Er betrachtet nun das Seiende als Teil eines Seins in der unablässigen Bewegung, die daraus hervorging, als einen Zustand des Seins, ein „Seiendes-als-Sein“, welches in die Welt-Beziehung überleitet. Die weltweite Beziehung stellt unablässig mit allen Differenzen auf der Welt Verbindung her, und realisiert auf diese Weise „die Quantität ausnahmslos aller Differenzen auf der Welt.“
Wenn die Weltbeziehung als Realisierung des Diversen sich in der Begegnung zeigt, und zwar in der Begegnung aller Differenzen auf der Welt, dann nähert auch die Philosophie sich der künstlerischen Betätigung an. (R S.123)

Der Literatur, und vor allem der Poesie, spricht Glissant in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu.

Die herkömmlichen, okzidentalen, Denksysteme wurden zur Unterdrückung der übrigen Welt eingesetzt, ihre vorgebliche Transparenz und Allgemeingültigkeit hat sich als trügerisch für das Wohlergehen des Planeten erwiesen. Nach diesem Befund ist für Glissant ein Vorausschauen nur im Imaginären, in Formen der Poesie möglich, die für alle Menschen zugänglich und gültig sind. Diese Idee hat er auch früher in seinen Poetiken dargelegt, mit denen er Weltmomente aus dem großen Spannungsfeld einfängt, das für ihn die Weltbeziehung (Relation) darstellt.

Auch jeder Einzelne hat Zugang zu einer Vision von der Welt, indem er an seinem Ort die eigenen Intuitionen von der All-Welt sammelt und reflektiert. Dies geschieht unabhängig (oder gleichlaufend, untergründig) von unserer Lebenswelt, in der die alles beherrschenden Medien eine Angleichung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner bewirken.
Dabei könnte die Poesie mit „der ihr eigenen, nicht benennbaren und kaum wahrnehmbaren Dialektik eigentlich einen Widerstand gegen die technisierte, in ihrer Technologie eingesperrte, dem Profit verschriebene Weltsicht“ anbieten, wie er sagtm doch werden gerade die individuellen Reflexionen der Kunst vom Mainstream an die Seite gedrängt. Früher ging die Auseinandersetzung in der Literatur um „das Universelle“, ihren „universellen Wert“. Dies Denken ist nach Glissants Auffassung durch die jüngeren Entwicklungen obsolet.
Trotzdem ist diese Auffassung einer universellen Literatur, die auf Ähnlichkeit basiert und nicht auf Diversität, heute noch dominant, zumindest in der westlichen Welt, und gibt im Literaturbetrieb den Ton an (P S. 41).
Nach Glissant ist allein das Gedicht fähig, die Verbindung mit allen auf der Welt Lebenden herzustellen, denn Poesie spricht das Imaginäre direkt an.
„Das Gedicht ist (es besingt) das Detail und kündigt dabei die Totalität an. Aber es ist die Totalität der Differenzen, die niemals imperial ist.“ (P S.83)
Parce que ce sont les paysages qui scandent– „Denn schon die Landschaften skandieren“ (in ihrer Abwechslung, B.T.) .(R S.29).

Wie in der bildenden Kunst strebte die Dichtung der ersten Zeit im Sakralen nach dem Ausdruck der verlorenen Ununterschiedenheit. In der Sprache, in jedem Sprechen, in jedem Brechen des weltumspannenden Schweigens, scheint seither das Unaussprechliche, Verschwiegene und Opake kurz auf.
Gleich zu Beginn von Philosophie de la Relation heißt es: „ … das Gedicht an sich ist zeitgenössisch mit den ersten Feuerstellen auf der Erde („… le poème en soi est contemporain des premiers brasiers de la terre.“(S.12) Dies bedeutet, dass in jedem Gedicht die Intention des Sprechens dem weltumfassenden Schweigen entrissen wird.
Während die Vielfalt der Welt in anderen geistigen Bereichen gezählt wird, diese Zahl aber keine Ausdehnung hat, kann dies die Dichtung leisten. Das Detail einer Landschaft, etwa, „ist kein Punkt in einer Beschreibung, (repère descriptif) sondern es ist eine Quelle von Poesie und gibt zugleich eine nicht messbare Ausdehnung der Landschaft wieder.“ (P S.28)
Nur in der poetischen Vorstellung können wir das Neuland unserer Epoche betreten. Auch jedes andere literarische Schreiben, etwa von Prosa, ist „eine Geste des Ausbreitens der Landschaften“ (P S.32) und trägt zur Wahrnehmung der Vielfalt auf der Welt bei.

Die Literatur wie die übrigen Künste stellen somit den Bezug des Einzelnen in seiner Wahrnehmung zur Welt als einer aus vielen Details/Differenzen gebildeten Totalität her. Dies speist sich aus dunklen, opaken, dem Künstler nur teilweise bewussten Quellen seiner Kreativität. So betrachtet, erschafft alle Literatur (die diese Bezeichnung verdient) ein Universum, eine eigene Welt und ist auf den Anderen bezogen und darin auf die Welt insgesamt. Der Maßstab ist für Glissant hier das Streben nach einem Ausdruck der Schönheit. Seine Ästhetik gründet darauf, dass alle Menschen die Natur, und hier vor allem die Landschaften in ihrem Reichtum an Farben und Formen, als schön empfinden.

Glissant zieht keinen scharfen Trennstrich zwischen der kolonialen Literatur bzw der Literatur der kolonialen Epoche und späteren Literaturen, die den Kolonialismus in steigendem Maße kritisieren und schließlich verwerfen. Auch hier steht für ihn die Bezugnahme auf den Anderen, das Streben nach einem Ausdruck der Welt im Vordergrund. Er sieht Literaturen der Dekolonisierung in einem Kontinuum, „sie beschwören das Denken des Einen und Selben herauf, um es zu überwinden (wobei dieses Eine hoch über den Kolonisierungen schwebend diese veranlasst hatte).[…] Diese Literaturen zeichnen im Bewusstsein vor (déssinent), was am Diversen, Verstreuten (diffracté), Multiplen und fast vollständig Unberechenbaren noch ungewohnt ist.“ (P S.44)
Diese Betrachtung der Kolonialliteratur deckt sich übrigens mit dem von Alain Mabanckou und anderen heutigen Schriftstellern aus Afrika und der afrikanischen Diaspora, die ihr Schaffen ebenfalls in einem räumlichen wie zeitlichen Kontinuum wahrnehmen. Es geht nicht so sehr darum, wer spricht – etwa welcher Hautfarbe er ist – sondern was ausgesagt wird, das heißt, wie die Weltbeziehung angesprochen wird.
Für heute, für die neue Region der Welt, entsteht Schönheit, wenn „der Schriftsteller in der Gegenwart aller Sprachen der Welt schreibt“ – auch wenn er nur eine kennt und von seinem eigenen Ort ausgeht:
„In die Welt einzugehen heißt gleichermaßen, in ihr am Ort zu bleiben, wie in ihr seine Kreise zu ziehen oder abzudriften.“
Entrer en monde, c´est aussi bien y demeurer qu´y dévirer et dériver.“ (P. S.34)
So ist Glissant „großzügig“ in seinen Betrachtungen, fern jeder Ideologisierung. Allerdings ist seine Ästhetik anspruchsvoll in ihrem Verlangen nach Schönheit:
„Die Schönheit ist das Zeichen, dass sich gleich hier etwas verändern wird“. („La beauté est le signe de ce qui, là, va changer.“) (R S.107)

Die neuen, vom Anspruch des Einen, des Universellen befreiten Literaturen verursachen Reibung, „sie brechen etwas auf“ (rompent contre). (P S.42)
„Die Literaturen drücken die Intuition aus, dass die Diversität zunächst ein Feld des Zusammentreffens (nicht des Zusammenschlusses sondern der Reibung) aller Künste ist (die Reibung geschieht à la lettre, ist also Literatur).“ (P S.40)
„Diese Literaturen streben nicht nach Vollendung sondern nach Fülle, nach Vollzähligkeit.[…] Sie bauen eine Bleibe in einem lebhaften (à vif) Austausch mit der All-Welt, die sich unablässig bleibend verändert.“
Dies bedeutet auch „den radikalen Bruch mit der Arroganz aller Weltsichten, die zur Verallgemeinerung streben (arrogances des vues d´ensemble)“.

Denn die neue Epoche des 21.Jahrhunderts unterscheidet sich von allen vorigen dadurch, dass in ihr niemand Vorteil aus der Geschichte ziehen kann. „Wir betreten sie, ehemalige Entdecker und ehemals Entdeckte, ehemalige Kolonisatoren und ehemals Kolonisierte, ohne dass irgendein Vorteil in der Erkenntnis, für oder gegen diese und für oder gegen jene, sich aus dem Erbe der Vergangenheit ergibt. Dies aber nur unter der Voraussetzung, dass über den Raub der Bodenschätze, die Verurteilung ganzer Völker zum Niedergang, über die bleibenden Schäden und die aus der Ferne verübten straflosen Verbrechen genaue Rechenschaft abgelegt wird.“(P S.33)
Wir sehen in Philosophie de la Relation, wie sich die Weltbeziehung weiterentwickelt hat, tatsächlich alle in ihren Bann zieht und damit die „neue Region“ strukturiert.

Auch in seiner Begrifflichkeit geht Glissant von der Landschaft aus, so erinnert etwa „das Denken der Spur“ an die Pfade im Dschungel Martiniques. Dieses Denken beschrieb die Suche nach der eigenen, vom Kolonisator geraubten und verdunkelten Geschichte, nun „befragt es die verbundenen Gedächtnisse aller, die an der All-Welt teilhaben.“(P S. 80)
In seinen tastenden, ungewissen, dabei nachhaltigen Suchbewegungen findet Glissant für seine Vision von der Welt zugängliche und dabei aktuelle Begriffe, die häufig im Zusammenhang mit der Chaosforschung stehen.
Jedes seiner Denkbilder, das eine Facette der Welt-Beziehung beschreibt, erhält in Philosophie de la Relation ein Kapitel. In jedem Kapitel nimmt Glissant Bezug auf die neue Region, in die wir im 21. Jahrhundert eingehen, also auf unseren derzeitigen Weltzustand. Er findet jeweils einen einprägsamen Satz, eine Aufforderung an den Einzelnen, wie er seine Einstellung, sein Imaginäres und sein Verhalten gegenüber der Welt ändern kann. An jedem Punkt verknüpft er dies mit der Literatur, der er die Aufgabe zuweist, „den Menschen beim Eintritt in die Unentwirrbarkeit (der Chaos-Welt) zu helfen“. Doch sind dies nicht Anweisungen im Sinne einer „engagierten Literatur“, sondern die nicht ruhende Aufnahme der Beziehung zur gesamten Welt und „ihrer unbezähmbaren Schönheit“, also eine ästhetische Forderung. (s. o.)

  1. Das archipelische Denken,

„ein Denken des Versuchs, des intuitiven Vortastens.“

(P S.48) „Das Archipel ist verstreut und fraktal, d.h. notwendig in seiner Totalität, dabei ist seine Einheit fragil und eventuell – es ist ein Weltzustand.“ Glissant bezieht sich hier auf die Ideen der Chaosforschung. Zum Beispiel auf die Erkenntnis, dass der Umriss einer Insel nicht messbar, im Detail unendlich ist.
Dem archipelischen Denken entgegengesetzt, bzw angefügt („apposé“ statt „opposé“), das Kontinentale Denken – ein Denken in Systemen. „Dieses prescht wagemutig voran, aber wir nehmen mit ihm die Welt wie einen Block wahr, im Großen und Ganzen, wie aus einem Guss, als eine imposante Synthese, genau wie wir bei Luftaufnahmen die Totalansichten des Landschaftsgefüges und des Reliefs wahrnehmen.“

Doch niemand kann in der Luft leben, daher ist „der eigene Ort unhintergehbar: […] ich kann nie um meinen Ort herumgehen, ihn umfassen oder umrunden (contenir, contourner), was aber auch bedeutete, ihn einzusperren.“(P. S. 46)
Oder, wie er schon in seinem allerersten Essay Soleil de la conscience über den eigenen Ort schrieb:
„Jeder Mensch kommt zuerst über seine eigene Welt zu einem Bewußtsein von der Welt. Es wird in dem Maße universell sein (um es weit zu fassen), wie die eigene besonders ist; in dem Maße großzügig und gemeingültig, wie er gelernt hat, allein zu sein, und umgekehrt.“ [4]
Dieser Textpassage sei auch angeführt als ein Beispiel zur Begriffsbildung bei Glissant: In späteren Schriften spricht er vom „eigenen Ort“ statt von„eigener Welt“, er lehnt das „universelle Eine“ als westlichen Herrschaftsbegriff ab, dennoch sind in der Passage die späteren Vorstellungen in nuce enthalten.
In Philosophie de la Relation führt er diese im archipelischen Denken weiter aus: „Die Orte wiederholen sich einer nach dem anderen. Es gibt in der Weltbeziehung keine Grenze nach unten.“
In diesen Zusammenhang gehört der bereits sehr verbreitete Spruch (auch dies merkt Glissant an) : „Agis dans ton lieu, pense avec le monde“ „Handle an deinem Ort, denk mit der Welt.“ (P S.46)
„Eine zweifache Aufforderung, die das Verhältnis von Detail und Totalität beschreibt“, wie er sagt.

  1. Das Denken des Bebens,

„ist eingestimmt auf die Vibrationen und Erdbeben dieser Welt wie auf die katastrophalen Zustände der gegenseitigen Beziehungen, die auf die Sensibilität der Menschen und ihre Intuitionen wirken.“ Das Denken des Bebens „wird uns vielleicht in die Lage versetzen, die Unentwirrbarkeit (der Chaos-Welt) kennenzulernen, ohne von ihr belastet zu werden.“
Wenn wir uns diesen Schwingungen überlassen, können wir „die unendlichen Nuancierungen der Welt-Beziehung“ wahrnehmen.

„Unsere Gedichte erzittern vor der Erinnerung an die Ununterschiedenheit“ der mythischen Zeit. (P S.56)

  1. Das neue Denken von den Grenzen

Glissant vertritt nicht die Ansicht, dass Grenzen abgeschafft werden sollten. Er schätzt sie als Möglichkeit, Differenz zu bewahren und kenntlich zu machen. Doch erhält die Grenze bei ihm eine neue Funktion: sie setzt nicht mehr ein Verbot durch, sondern sie dient „lediglich als eine Unterscheidung zwischen Realitäten, um sie so besser in Verbindung zu bringen.“ (P S.57)

„Es sind Grenzen zwischen Orten, die sich zu Archipelen angeordnet haben.“

  1. Das Denken der Irrfahrt, der umherschweifenden Bewegung

Die Irrfahrt ist für Glissant zunächst ein Bild für den Lebensweg des einzelnen Menschen, für den er Planbarkeit und Determinierung in Frage stellt. Außerdem für ein Denken, das stets im Wandel und Werden ist, so dass der beschrittene Weg und das Ergebnis nicht festgelegt sind.
In Philosophie de la Relation  fasst er diesen Gedanken so (S.61):
„Das Denken der Irrfahrt ist das Denken unserer nicht geplanten Zusammenschlüsse, mit denen wir von den absoluten Festlegungen des Seins zu den Varianten der Weltbeziehung unterwegs sind. In der Weltbeziehung wird das Sein-als-Seiendes in der Ununterschiedenheit von Essenz und Substanz, von Bleibe und Bewegung erkennbar.“
„Das Denken der Irrfahrt ist das Denken der solidarischen Verwurzelung und der Rhizome.“

„Für den Erzähler und Dichter führt es zu Wiederholungen mit kleinen und kleinsten (unendlichen) Variationen“, um die vielen Differenzen abzubilden.
Die Philosophie der Weltbeziehung kann daher nur „eine bewegliche, unstete (errante) Philosophie sein, deren Pole und Punkte des Austauschs unablässig in Bewegung“ sind. (P S.62)

Wir sollten uns daran gewöhnen, „dass die Erkenntnis viel eher in Bewegung (errante) als universell ist.“

  1. Das Denken der Kreolisierung

Die Kreolisierung ist Glissants zentraler Begriff für die Vermischung von Kulturen. Seit dem Ende des 20. Jahrhundets prallen diese weltweit im Prozess der wirtschaftlichen, aber auch der medialen und kulturellen, Globalisierung noch unvermittelt aufeinander. Glissant prägte diese Vorstellung einer „chaotischen“ Vermischung im Unterschied zur „Hybridisierung“ von Kulturen, weil er überzeugt ist, dass das Ergebnis dieses Prozesses grundsätzlich unvorhersehbar und unberechenbar ist.

Gerade darin leitet dieser Prozess in die Weltbeziehung über:
„Wenn wir sagen, dass die Differenzen das Seiende in Raum und Zeit situieren, wiederholen wir damit nicht etwa, dass das Seiende in Raum und Zeit begrenzt ist, sondern dass die Differenzen es in der Weltbeziehung zum Schwingen bringen.“
„Alors que nous disons que les différences situent l´étant dans l´espace et le temps, nous répétons par là-même, non pas que l´étant se limite dans l´espace et le temps, mais qu´elles le font sinuer dans la Relation.“ (R. S.64)

 

  1. Das Denken der Unvorhersehbarkeit

„Die Unvorhersehbarkeit ist nicht gleichzusetzen mit dem Unvorhergesehenen, die Unvorhersehbarkeit bietet sich vielmehr als Perspektive an und ist als solche zu beschreiben (se commente), während das Unvorhergesehene als Konsequenz und Ergebnis eintritt. Jedoch nicht als Ergebnis der Unvorhersehbarkeit. Eher als Resultat von etwas, das fehlt, eines Nichts, bei dem weder das Vorhersehbare noch das Unvorhersehbare geschieht. Das Unvorhergesehene, die Überraschung, des poetischen Schreibens entsteht in dieser Schwebe (´ein großes, aus dem Nichts hervorgegangenes Gedicht´ wie Saint-John Perse sagte, wobei nicht der Inhalt gemeint war, sondern die Umstände seiner Entstehung), ganz unabhängig davon, ob rhetorische Mittel es vorbereitet haben.“ (P S.68)
Die von der Perspektive der Unvorhersehbarkeit ausgehende gelassene Reaktion eröffnet neue Möglichkeiten solidarischen Handelns.

  1. Das Denken der Opazität

bezeichnet das Recht, für den Anderen opak, das heißt undurchdringlich, unverständlich zu sein.
Die Forderung, den Anderen „zu verstehen“, ver-stellt ihn, das heißt, will ihn dem eigenen Verständnis entsprechend verändern. Dieses Verständnis beschränkt den Anderen in seiner Vitalität, seinem Eigenwillen, seiner Selbstbestimmung.

„Die Opazität empfängt und sammelt das Unergründliche aller Details der vielen Orte auf der Welt gemeinsam mit ihren Poetiken, es akzeptiert das Sein-als-Seiendes, und damit die Welt-Beziehung.“ (P S.69)

  1. Das Denken des Relationalen der Welt, das Denken der Weltbeziehung

(P S.72) „Die Weltbeziehung ist alles, was Verbindung herstellt, verknüpft und erzählt.“

„In der Weltbeziehung stellt zunächst die Reihung der Bezüge zwischen den Differenzen Verbindung her.“
„Die über die Welt hinweg fortlaufenden Wurzeln (Rhizome) der Ideen, der Identitäten, der (daraus entstehenden) Intuitionen stiften die Verbindung.“

„In der Anordnung der Wörter wächst schon das Gedicht.“

Die Unmöglichkeit, eine Philosophie im herkömmlichen Sinne zu formulieren, da sie von der unablässigen Veränderung immer wieder eingeholt würde, gibt ihr eine eigene, die Prägung einer„nomadischen Philosophie“. (P S.91)
Am Schluss stellt Glissant fest, dass der gesamte Text seiner Vision von der Welt die Entstehung und Bewegung eines Gedichts beschreibt.
Beginnend mit den Uranfängen der Höhlenmalerei, besucht er anschließend den Ort seiner Geburt, doch die Hütte ist von einem Erdrutsch verschüttet, noch eindrücklicher aber, das Geräusch der Quelle, das seine Kindheit begleitete, ist verschwunden. Hier findet er die tiefe Bedeutung des Gedichts als direkte Verknüpfung von Ort und Zeit, eben auch in der Erinnerung, mit dem Imaginären. Nach dem Ansammeln von weiteren Welt-Momenten endet schließlich alles mit dem Bild des Gehens in einem Flüsschen und damit einer Poetik, „bei der jedeR gleichzeitig nach den Krebsen unter dem Stein sieht und in der Zeit von Fels zu Fels springt.“ Der Bogen, den der Einzelne von seinem Ort zur Welt schlägt, stiftet eine „kosmische Intimität“ (P S.105) zunächst in der Sprache – die Differenz der Sprachen ist das anschauliche und tiefe Bild für den Austausch zwischen allen Menschen.

Während Une nouvelle région neue Perspektiven in der Betrachtung von Kunst eröffnet, schafft Glissant in Philosophie de la Relation eine große Vision. Er verknüpft die Ideen seine früheren Werke noch enger mit dem Gedanken der fortschreitenden Beziehung, definiert damit unseren Weltzustand, und ihm gelingt so eine konkrete, anschauliche und poetische Abrundung seines Denkens.

Beate Thill

Bei den Zitatangaben in Klammern steht P für Philosophie de la Relation und
R für Une nouvelle région du monde; B.T.

[1] Interview mit Les périphériques vous parlent No14, 2005; s.a. Edouard Glissant, Kultur und Identität – Ansätze zu einer Poetik der Vielheit.Üb. Beate Thill, Heidelberg (Wunderhorn) 2005

[2] „Mana“ definiert er in Philosophie de la Relation auf Seite 99: „eine Kraft, die zugleich sublimiert und immanent, das heißt von Gefahr bedroht, ist“ – also eine ungreifbare und allem innewohnende Kraft.

[3] „Pouvons-nous par ailleurs ne plus nous assurer de l´étant comme d´une tenue de corvée, peut-être même d´un ordinaire oripeau, de l´Etre, et l´apprécier pour ce qu´il devient sans cesse, la quantité réalisée de toutes les différences du Tout-Monde, et du monde, sans en excepter une seule?

[4] Tout être vient à la conscience du monde par son monde d´abord; d´autant universel (pour parler large) qu´il est particulier; d´autant généreux et commun qu´il a su devenir seul, et inversement.“ Edouard Glissant: Soleil de la conscience. Paris 1956, réedition (Gallimard) 1997, p. 54

Edouard Glissant:
Une nouvelle région du monde[1] -Exposé

[1] Edouard Glissant: Une nouvelle région du monde. Paris (Gallimard) 2006

Gedanken für das 21. Jahrhundert

Wie sieht man die Welt, was erzählt man über sie und wie verhält man sich in ihr, zu ihr?
Stellte sich am Ende des 20.Jahrhunderts noch die Frage, ob der Zusammenprall der Kulturen auf der Welt ein Clash, ein Konflikt sei, so stellt Glissant zu Beginn des neuen Jahrhunderts die Behauptung auf:
„Die All-Welt (Tout-Monde) ist nicht mehr ein Anderswo: sie ist die Region, die noch fehlte, dass die Welt zur Welt wurde.“ (S. 58)
Das Tout einer unendlichen Akkumulation ist dieses positive »Alles«, das Glissant vorschwebt, wenn er sein zusammengesetztes Nomen Tout-Monde erfindet, oder wenn er von Totalität spricht. In dieser Akkumulation, um die Welt zu beschreiben, ist sie total unüberschaubar und doch endlich. Dagegen steht die westliche Auffassung von Totalität als Machtanspruch (bis zum Totalitarismus).

„Eine neue Region, die eine Epoche ist und die alle Zeiten und alle Dauer auf der Welt vermischt, sie ist zugleich eine Epoche und ein unerschöpfliches (Neu-)Land, in dem sich Weiten sammeln, die nach anderen Grenzen streben, wie man es auch von den Atomen sagt.“(„Une région nouvelle qui est une époque, mêlant tous les temps et toutes les durées, une époque aussi qui est un inépuisable pays, accumulant les étendues, qui se cherchent d´autres limites, en nombre incalculable mais toujours fini, ainsi qu´on a dit des atomes.“)

Wir, als Menschheit, betreten diese neue Region – ob wir es  wollen oder nicht, wir werden in Beziehung gesetzt. Wir betreten sie alle zusammen oder die Menschheit hat keine Zukunft.
Aber:„In der All-Welt sind alle jung“ (S 63 u. 81)

Der Essay Une nouvelle région du monde Esthétique 1 beginnt mit der Kunst und ihrer Frage nach der Schönheit. Wie bereits in den früheren Essays ist eine Betrachtung der Einen Welt für Glissant die Voraussetzung dafür, dass wir friedlich zusammenleben können – und da diese Betrachtung nicht anders vorstellbar ist, muss sie ästhetisch- im engeren Sinne: poetisch – sein.

Glissant zeigt, dies ist die Intention dieser Ästhetik, wie die vorgeprägten Fragestellungen des okzidentalen Denkens überwunden werden können. Auf welche Weise Poesie, Literatur, gewisse Formen der Kunst, mit ihrer Subversion dieser Vorprägungen Erleichterung und Distanz schaffen können, und uns so den Schwebezustand einer neuen Unübersichtlichkeit im 21. Jh hinnehmen lassen. Diese unüberschaubare Diversität, die wir bei unserer heutigen Sicht auf die Welt empfinden, nennt Glissant Tout-Monde, All-Welt. Sie ist für ihn per definitionem ein Chaos.
So fällt es der Kunst, der Literatur und Poesie, den Geisteswissenschaften zu, „beim Eintritt in das Unentwirrbare zu helfen.“ Doch kann es auch jeder Einzelne, indem er seine Intuitionen von der All-Welt sammelt und reflektiert, die Glissant Gemeinplätze (lieux-communs) nennt, die in ihrer Sammlung zu „gemeinsamen Orten“ (Französisch lieux communs ohne Bindestrich) werden (S.119) – eine der Weiterentwicklungen seiner früheren Einsichten, die er in Une nouvelle région formuliert.

Glissants erste These ist, dass die Naturerfahrung als Grundlage des künstlerischen Ausdrucks auch die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens beeinflusst. Dies beginnt bereits in den Höhlengemälden der sogenannten „Vorgeschichte“. Glissant lehnt die eurozentrische Einteilung der Geschichte ab. Der Okzident lege mit ihr einen Abgrund („un gouffre“) zwischen sich und den Anderen, zwischen der eigenen und den anderen Kulturen und Epochen der Welt, in denen er selbst nicht bestimmend war. In der neuen Region heißt es nun, diesen Abgrund wie die anderen trennenden Klüfte „umzustürzen“ – „renverser les gouffres“
Etwa schlägt Glissant vor, die verschiedenen Geschichten, die verschiedenen kollektiven Gedächtnisse, zu teilen: „Jedes geteilte Gedenken ist die Garantie, dass wir uns darum bemühen, die Abgründe umzustürzen.“ (S.194)

Die Höhlengemälde sind nach Glissants Ansicht nicht nur primitive Darstellungen der Beutetiere, sondern in ihnen drückt sich bereits der Bezug zum Anderen aus, im Streben nach Verschmelzung, nach der Fusion mit dem Tier und der Umwelt. Am Anfang der Menschheit, bevor sich die verschiedenen Gemeinschaften differenzierten, gab es eine mythische Einheit, von der eine dunkle Sehnsucht ausgeht. Es ist die Suche nach dem Geheimnis der „magnetischen Verbindungen“ – der tiefere Sinn jeder Kunst: „Die gemeinsame Intention zu erkennen, die magnetischen Verbindungen wiederzufinden.“ (S.106) („Reconnaître la connivence, retrouver les liaisons magnétiques“.)

Bei der Frage der Schönheit geht Glissant davon aus, dass wir die Natur als schön empfinden, in der die Landschaft vielfältig und farbenreich ist.
Dagegen ist die Monotonie der Farben in der modernen Kunst und der Kunst der Gegenwart im Okzident für ihn Ausdruck einer Negation der Schönheit – Ausdruck der Unfähigkeit, zu malen, sich auszudrücken. In der europäischen Kunstgeschichte wurde dies unter anderem als „Ende des Tafelbilds“ bezeichnet.
Nach Glissant entspricht es einer Unfähigkeit, mit der Welt in Beziehung zu treten.
Daher hat nach Glissant die traditionelle europäische Betrachtung der Kunst als die Setzung von absoluten Werten wie des Guten und Schönen ausgedient.

Kunst und Schönheit haben bei Glissant einen dunklen Rest, da sie eigentlich Ausdruck des Ungewissen, des Unwahrscheinlichen, Unvorhersehbaren, des Unzählbaren und Unbenennbaren ist.
„La beauté encourt à jamais de ne pas être sue ni reconnue, c´est là sa grâce.
„Für die Schönheit besteht immer das Risiko, nicht erkannt und anerkannt zu werden, darin liegt ihr großer Reiz.“

In der europäischen Kunsttradition hat am ehesten die Poesie das Ungreifbare, Unfassbare und Unbegreifliche ausgedrückt. Sie hat stets die Intention, in der Sprache die geheime Übereinstimmung, die magnetischen Verbindungen zu suchen.
Als Beispiel führt Glissant das Dunkle bei Dichtern wie Ronsard, Villon an. Auch der anlässlich seines 250. Geburtstags zuletzt häufig zitierte Spruch von Hölderlin: „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ weist in diese Richtung, vor allem aber beschäftigt dieser sich im Hyperion mit der Frage nach der ursprünglichen, mythischen Einheit und Schönheit.

Die zeitgenössische Kulturproduktion steht ganz im Gegensatz zu der so definierten Aufgabe der Kunst.
„Die Völker dienen nur noch als Publikum. (R 28) In den Medien wird „das ganze Unglück der Welt gefangen im machtvollen Ernst seiner Repräsentation in einer Weise, dass es im Akt des Zeigens zugleich der Zerstreuung dient. […] Was die Nachrichten uns von der Welt zeigen (nous relèvent du monde), ist nur mehr quälende Wiederholung.“
(Les peuples deviennent les publics.
Tant de malheurs, empris dans la très puissante pesée de leur représentation, sont, dès que signalés, divertis. […] Nos actualités, pour ce qu´elles relèvent du monde, nous lancinent strictement.“)

„Die Kunst wird zu ihrem eigenen Film und verliert sich darin.“ („L´art est entré dans son propre film et s´y perd.“ S.93)
Das hat wie gesagt nichts mit der Schönheit zu tun. „Denn die Schönheit enthüllt oder erschließt sich in einer Vision von der Welt … Sie weist auf das unablässige Werden hin“:
„Die Schönheit ist das Zeichen, dass sich gleich hier etwas verändern wird“. (La beauté est le signe de ce qui, là, va changer.“ S.107)
Heute wird auch die Philosophie zu einer künstlerischen Übung, zur Kunst:
Denn in der neuen Region des 21. Jh ergibt sich eine neue Definition des Seienden und des Seins:
„Ist es denn nicht vorstellbar, dass das Seiende, ohne jede Transzendenz (hin zum Sein), in seiner Gesamtheit und Vielzähligkeit als universelles Mana … sich entwickelt und fließt wie die Geologie und das Klima – wie die unterirdischen Lavamassen der Planeten?“
„Dann wäre und würde das Sein zu der unablässig realisierten Quantität aller Differenzen der All-Welt und der Welt, ohne eine einzige Ausnahme“ (Région 43)

Wenn die Beziehung als Verwirklichung des Diversen sich in der Begegnung zeigt, und zwar in der Begegnung der Differenzen dieser Diversität der All-Welt, dann nähert auch die Philosophie sich der künstlerischen Betätigung, der Kunst, an. (S.123)

Wenn Glissant diesen Essay als „poétrie“, als eine poetische Divagation über die neue Region der Welt bezeichnet, während der er die „Gemeinsamen Plätze“ zusammenliest und anhäuft, so verweist diese Verbindung von Philosophie und Kunst bereits auf sein kommendes Werk Philosophie de la Relation hin, wo er auf Grundlage dieser Sammlung seine Theorie der Beziehung weiter denkt und konstruiert.

Beate Thill

 

 

 

 

 

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