Warum bin ich in Paris?

„Or wandering along the Seine at night, wandering and wandering, going mad for the beauty of it …“p.13

„Paris is just an artificial stage, a revolving stage that permits the spectator to glimpse all phases of the conflict. Of itself Paris initiates no dramas. They are begun elsewhere. Paris is simply an obstetrical instrument that tears the living embryo from the womb and puts it in the incubator. Paris is the cradle of artificial births. […] You can read here on the walls where Zola lived and Balzac and Dante and Strindberg and everybody who was anything. Everyone has lived here some time or other. Nobody dies here …“p.23

„Everything happens in Paris

Zitate von Henry Miller aus Tropic of Cancer**

„Oder wanderte die Seine entlang bei Nacht, wanderte und wanderte und wurde verrückt von dieser Schönheit …“
„Paris ist einfach eine künstliche Bühne, eine Drehbühne, auf ihr kann der Zuschauer dem Konflikt in allen Phasen zusehen. Paris fängt aber keine Dramen an. Sie werden anderswo begonnen. Paris ist nur ein obstetrisches Instrument, welches den Embryo lebendig aus der Gebärmutter herauszieht und ihn in den Brutkasten legt. Paris ist die Wiege künstlicher Geburten. […] An den Hauswänden kannst du hier lesen, wo Zola wohnte und Dante und Strindberg und alle, die jemand waren. Alle haben hier irgendwann einmal gelebt. Keiner stirbt hier.“

Die Textstellen von Miller umreißen, was Paris ausmacht. Die Stadt hat eine so besondere Atmosphäre, dass es einem in jeder noch so einfachen Straße bewusst ist: „Ich bin in Paris“( – gemeint ist hier allerdings die Stadtgemeinde Paris mit ihren 20 Bezirken, innerhalb des Rings des Boulevard Périphérique.)

Miller spricht auch davon, dass diese Metropole wie keine andere ihren Bewohnern gehört, dass auch der einfachste Kutscher, der Schuster oder die Concierge einen Sinn für ihre Schönheit haben und stolz sind, hier zu leben.

Zu der Schönheit der Stadtlandschaft und ihrer Atmosphäre kommt hinzu, dass in Paris alle Facetten des Lebens zu sehen sind. Der Mensch möchte in der Zeit, die ihm gegeben ist, mit allem in Berührung kommen, was die Welt zu bieten hat und was sie bewegt. Es ist zumindest ein Streben, das die Literatur ausdrückt. Robert Musil hat in seinem Mann ohne Eigenschaften dies als „Anderen Zustand“ bezeichnet, ein euphorischer Moment mit einer Vision von der ganzen Welt. Ich glaube, dass in unserer Zeit, wo erstmals jeder über die Neuen Medien unseren Planeten als eine Einheit erfassen kann, dieses für die meisten Menschen gilt, auch wenn sie nicht viel mit Literatur zu tun haben.

Paris als Stadt ist eine Ikone, sie ist nicht nur die Heimat der Mona Lisa im Louvre, zu der die Touristen hinströmen, als gäbe es nichts anderes zu sehen. Vielleicht steht die Mona-Lisa-Hysterie ebenfalls für den Wunsch, dabei sein und an der Welt teilhaben zu wollen.

Es heißt auch von New York, alles, was es auf der Welt gebe, sei in dieser Stadt zu finden, und in gewisser Weise trifft es wahrscheinlich für jede Metropole zu. Miller hatte eine große Abneigung gegen seine Heimatstadt New York, dies hatte wohl historische, viel stärker aber persönliche Gründe. Es sind Idiosynkrasien dafür ausschlaggebend, warum man sich eine bestimmte Stadt wählt und keine andere.

Es war schon immer mein mehr oder weniger expliziter Wunsch, längere Zeit in Paris zu verbringen. Zu Beginn des letzten Jahres hatte sich durch verschiedene Umstände die Möglichkeit dazu ergeben. Ich folgte zunächst nur meinem Gefühl, ich müsste in einer großen Stadt leben, um persönlich noch einen Schritt weiter zu kommen. Die Anfänge waren tastend und ohne einen festen Plan.

Ein weiterer Grund für mich, in Paris zu sein, liegt auf der Hand, denn ich übersetze seit vielen Jahren Literatur aus dem Französischen. Ich wollte einmal eine Zeit im pochenden Zentrum dieser Sprache und Kultur leben. Ich würde damit auch häufiger Gelegenheit haben, „meine“ Autoren und darüber hinaus Leute zu treffen, die mir neue Ideen und Anregungen für meine Arbeit geben. Das Übersetzen von Literatur spielt sich wie das Schreiben im ganzen Erfahrungsraum des Lebens ab.

Schließlich kam das Angebot eines Freundes hinzu, dem ich für seine Großzügigkeit ewig dankbar sein werde, ich könnte während der längeren Wochen seiner Abwesenheit seine Wohnung im 19. Arrondissement nutzen.

Wünsche, Träume, Möglichkeiten, „es hat sich ergeben“ – das Privileg einer Zeit im Leben, in der man nicht mehr so stringent planen und aufbauen muss wie etwa in der Familienphase.

Ein dritter wichtiger Grund: Ich will mit meinem Hiersein etwas dafür tun, dass Frankreich, seine Menschen, seine Sprache, seine Lebensweise, und Deutschland, die Menschen, die Sprache, die Lebensweise, sich wieder annähern. „Wieder“ schreibe ich, weil in der Zeit direkt nach dem Zweiten Weltkrieg beide Seiten meinten, man habe nach all der Feindschaft, die in zwei Weltkriegen aufeinandergeprallt war, gemeinsam einiges aufzuholen. Vielleicht war damals der Wunsch, einander zu begegnen und kennenzulernen, wirklich vorhanden. Alle, die wie ich mit beiden Ländern und Sprachen zu tun haben, stellen fest, dass der Wunsch der Begegnung und des Kennenlernens hier wie dort stark abgenommen hat oder inzwischen völlig fehlt. Da ich in einer deutsch-französischen Familie aufgewachsen bin, ist es mein Anliegen, daran zu erinnern, dass es dieses Gegenüber gibt. Gerade in einer Zeit, in der sich unser Bewusstsein auf die ganze Welt weitet, kann es interessant sein, in der Erforschung der Andersheit beim Nachbarn anzufangen.

Fortsetzung:
Sind die Unterschiede wirklich so groß? Mit dieser Frage beschäftigt sich dieser Blog.

**Ich zitiere Millers Wendekreis des Krebses, weil er mit seiner zornigen Wucht und poetischen Kraft ein großer Roman der Moderne ist. Die deutsche Fassung stammt immer noch von Kurt Wagenseil, aus dem Jahre 1934, auch wenn sie in den 1960er Jahren (!) überarbeitet wurde. Liest man das englische Original, hat man ein anderes Buch vor sich, deshalb habe ich diese Zitate selbst neu übersetzt. Die französische Übersetzung von Paul Rivert ist nicht viel jünger, sondern aus dem Jahr 1946, und doch ist sie ungleich treffender und hat vor allem den Mut, den ungewöhnlichen und modernen Stil wiederzugeben, was ihm hervorragend gelingt. Vielleicht liegt es an dieser Übersetzung, dass sich viel mehr zeitgenössische französische Autoren auf Henry Miller berufen.

 

 

 

 

 

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Beate Thill

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