Paris, 17.12.2019 Nachtrag Finkielkraut ist ein „enfant terrible“ unter den französischen Schriftstellern, in unseren Zeiten ist das eine Marke, die sich gut verkauft. Zugleich ist er Mitglied der Académie Française, was man nur auf eigenen Antrag wird … Er hat bei der Öffentlichen Sitzung der Akademie im Dezember die „Rede über die Tugend“ gehalten, welche zu den Ritualen dieser festlichen und zugleich gastlichen Veranstaltung gehört, bei der auch alljährlich die zahlreichen Preise der Akademie verliehen werden (der Wortlaut ist auf der Website nachzulesen academie-francaise.fr/discours-sur-la-vertu-2019)
Finkielkraut beginnt mit einer rhetorischen Figur, die gerade kein Wohlwollen erheischt, er bezeichnet seine Aufgabe als „ein Stück künstlicher Eloquenz“ und den Begriff der Tugend als veraltet und sogar „spießig“. Er wehrt sich gegen jeden Optimismus, er will ein freier, ungebundener, kritischer Geist sein, dabei ähnelt er in seiner hedonistischen Koketterie eher einem altgewordenen, um nicht zu sagen greisenhaften (und dazu unreifen) 68er.
Im Widerspruch dazu fragte ich mich, ob „Tugend“ in unserer Zeit wirklich so unfassbar ist?[1]
Er fängt gut an, man kann ihm keinen schlechten Stil vorwerfen, er kennt sein Metier. Er nimmt seine „berühmten Vorredner“ zum Beispiel. Dabei ist es immer wirkungsvoll, mit einem Zitat von Proust zu beginnen, oder noch besser zu sagen, „Proust hat diktiert“, wie es Finkelkraut tut.
Er zitiert die Stelle aus der Recherche, wo Swann eine Passage von Saint Simon vorliest und mit der versammelten Familie diskutiert. Unser Redner zieht daraus das Zitat: &„Herrgott, wie werden uns die Tugenden verhasst!“, einen Spruch des Großvaters, und stellt die lächerliche Figur der Tante Céline in den Vordergrund, die ebenfalls spießig ist, dazu unbedarft, unter anderem, weil sie unbeirrbar die Gleichheit zwischen den Menschen verteidigt. Finkielkraut beschreibt sie als „ein verwelktes Fräulein“, das vielleicht sogar „etwas senil ist“, und schließt: „Wir sind heute auf Gedeih und Verderb der Herrschaft von Tante Céline ausgeliefert.“
Wer möchte schon unter einer solchen Herrschaft leben? Die nichts von Kunst versteht, „die von der Literatur nur die Mitteilung gelten lässt.“
Man liest im weiteren Verlauf dann doch ein paar Worte auf, die Tugend umschreiben könnten: „Großherzigkeit“, „Maßhalten“, „Bewahrung von Anstand und Sitte.“
Der Text ist flüssig, es fallen schöne Sätze, aber Finkielkraut vermischt alles, die Themen und die verschiedenen Reflexionsebenen, zu einem Wortgeklingel. Er kritisiert eine „nivellierende Moral“, indem er „menschliches Empfinden“ in einen Topf wirft mit „demokratischem Instinkt“. Er ätzt über „die Inklusionen“, der Frauen, der Behinderten, der Blinden – für ihn nur weitere Nivellierungen. Er behauptet, „dem egalitären Ideal ist nichts so fremd wie der metaphysische Dualismus zwischen Körper und Seele.“
„Das Universelle“ sei in unserer Zeit „die Ordnung des Gleichen“.
Bis zu diesem Punkt ist es die Rede eines Privilegierten, der seine Privilegien nicht abgeben möchte – etwa gegen die Frauen, die ihre Rechte einfordern – und die er verächtlich auf eine Stufe mit Tante Céline stellt.
Aber es kommt schlimmer, es scheint immer mehr ein „Sie und Wir“ auf: Wir, das sind die „Bessergestellten“ beziehungsweise die Intellektuellen, etwa alle, die unter der Kuppel der Akademie sitzen? Mit ganz wenigen Ausnahmen Privilegierte, weiße Männer eines gewissen Alters?
In der großen Umwälzung, die wir heute auf der Welt erleben und die manche „Konflikt der Kulturen“ oder „Clash of Cultures“ nennen, jagt nicht nur die Migration Angst ein, sondern auch die Invasion der Medien, wenn die täglichen Katastrophen in unsere Wohnstuben kommen. Finkielkraut spricht auch davon, ohne es zu bemerken, zumindest ohne es zu bezeichnen. Er analysiert nicht, er lässt seine Panik brillieren. Es ist verständlich. „Alles was sich auf der Erde ereignet, hallt unmittelbar hier nach.“ (Edouard Glissant)
Aber Finkielkrauts „berühmte Vorredner“ haben ihre Panik zu beherrschen versucht, sie haben sich Zeit genommen im Bemühen, ihr Thema gründlich zu analysieren.
Finkielkraut sieht in „den Anderen“, in „Ihnen“, die Massen, die angeblich kommen, um alles zu nivellieren und einzuebnen. Da geht es um „Wir“ oder „Sie“. Der Mangel an Distanz und Reflexion führt zu einem Diskurs der Rechten, ja der extremen Rechten, den man heute in Deutschland und überall in Europa kennt.
Was hat die Demokratie in diesem Zusammenhang zu tun, warum wird sie hier eingeführt? Denn Finkielkraut bezieht sich eigentlich auf die Prozesse, die mit unserem Wirtschaftssystem und der Globalisierung zusammenhängen.
„Die Anderen“ – neben den Frauen und den sozial Schwächeren meint er die Menschen, die aus nicht-europäischen Kulturen stammen, aus der Migration. Doch sind sie nicht etwa Parteigänger einer gegnerischen Partei, die man im politischen Prozess bekämpfen könnte. Sie sind auf der Welt und jetzt hier, mit einem anderen kulturellen Hintergrund, anderen Schicksalen und Erfahrungen, anderen Geschichten und Traditionen, anderen Vorstellungswelten.
Es hilft nichts, ihre Existenz als denkende Individuen zu negieren.
Ein Diskurs, der den Anderen negiert, ist nicht mehr als eine gescheiterte Kommunikation.
Ein Diskurs, der die Demokratie lächerlich macht, wie der von Finkelkraut, ist gefährlich, er ist verhängnisvoll.
Der Versuch, in Austausch mit allen zu kommen, ist heute unumgänglich.
Warum also nicht: „Allen eine guten Appetit!“ – noch ein Spruch, den der Redner lächerlich macht.
[1] Meines Erachtens wäre auch im Deutschen eine Klärung des Begriffs von Interesse, egal welche Übersetzung man für „vertu“ wählt, etwa auch „Ritterlichkeit“, „Rechtschaffenheit“, „Integrität“ oder aber, in einem politischen Register „gute Regierungsführung“. In unserer aktuellen Atmosphäre von verbreitetem (und vielbeklagtem) Hass zwischen Andersdenkenden, von Negativität und Nihilismus, fehlen die positiven Ziele, Orientierungen, Auffassungen, Bestimmungen. Warum sich nicht einmal Gedanken machen, was wir heute unter „Tugenden“ verstehen könnten – aber ohne Ansprüche zu formulieren, wie in Deutschland üblich, wichtig wären konkrete Definitionen und Beispiele. B.T.
Paris, 17.12.2019 Il y a quelques jours, le 12 décembre, Monsieur Alain Finkielkraut a prononcé le Discours annuel sur la vertu. C´était à l´Académie Française, lors de sa séance publique annuelle, un évènement d´un certain faste et très sympathique, lors duquel sont aussi attribués les nombreux prix de l´Académie (voir academie-francaise.fr/discours-sur-la-vertu-2019).
Monsieur Finkielkraut commence avec une précaution d´orateur contre sa tâche, ce „morceau d´éloquence artificielle“, et contre ce terme de vertu, à son avis quasi démodé, „ringard“ même. Il se distancie de la bienveillance, se défend contre tout optimisme. Il veut être un esprit libre, volatile, critique, mais avec sa coquetterie hédoniste il ressemble plutôt à un 68ard vieilli, pour ne pas dire vieillot (et immature).
On se demande, si la vertu, de notre temps, est vraiment si inconcevable?
Il commence bien, on ne peut pas lui reprocher un mauvais style, il connait son métier. Il prend comme témoin ses „brillants prédécesseurs“. Il est toujours éfficace de commencer avec une citation de Proust, encore plus, „si Proust a dicté“, comme chez Monsieur Finkielkraut.
Dans le passage cité de la Recherche, Swann propose la lecture d´un passage de Saint Simon pour le discuter avec sa famille rassémblée. Monsieur Finkielkraut en tire la phrase: „Seigneur, que de vertus vous nous faites haïr!“, proféré par le grand-père de Swann, et il met en avant la figure quelque peu risible de Tante Céline, ringarde elle aussi, ignare, qui défend l´égalité entre les êtres humains. Monsieur Finkielkraut la décrit comme „une demoiselle fanée“, peut-être même „un peu sénile“, pour conclure: „Nous vivons, pour le meilleur et pour le pire, sous le régne de Tante Céline.“
Qui voudrait vivre sous ce règne? Qui nie l´art, „qui n´entend de la littérature que le message.“
En passant, on glane quand-même quelques éléments qui pourraient définir la vertu: „magnanimité“, „austérité“, „respect de la décence“.
Le texte roule bien, il y a de belles phrases, mais Monsieur Finkielkraut mélange tout, les sujets et les niveaux de réflexion, il fait beaucoup de bruit. Il critique une „morale nivellisatrice“ juxtaposant le „sentiment d´humanité“ à „l´instinct démocratique“. Il vitupère contre „les inclusions“, des femmes, des handicapés, des aveugles – autres nivellisations.
A „l´idéal égalitaire“, selon lui, rien ne serait „plus étranger que le dualisme métaphysique de l´âme et du corps.“ !
„L´universel“, dans notre actualité, serait „l´ordre du semblable“.
Jusqu`à ce point, c´est un discours de privilégié qui veut garder ses privilèges – par exemple contre les femmes qui demandent leur droit – mais qui sont avilies, comme Tante Céline.
Mais il va plus loin, il parle de „Eux et nous“, nous, ce sont „les favorisés“ voire les intellectuels, par exemple ceux présents dans l´assemblée de l´Académie? Les privilégiés, hommes blancs d´un certain age.
Dans le grand chamboulement de notre monde, avec ce que d´aucuns nomment „le conflit des cultures“ ou „le clash des cultures“, ce ne sont pas seulement les migrants, qui angoissent, c´est aussi l´invasion médiatique dans notre vécu quotidien. Monsieur Finkielkraut parle de cela, sans s´en rendre compte. Il ne livre pas d´analyse, il fait briller sa panique. C´est compréhensible, „Tout ce qui se passe dans le monde aujourd´hui retentit immédiatement ici.“ (Edouard Glissant)
Mais „les grands prédecesseurs“ ont surmonté leurs angoisses, ils ont pris le temps et le soin de bien analyser leur sujet.
Monsieur Finkielkraut vise les masses qui soi-disant tous viennent pour nivelliser tout. Ce sont eux ou nous? Ce manque de distance et de réflexion produit un Discours de droite, d´extrème-Droite même, qu´on connait en Allemagne et partout en Europe.
On se demande, pourquoi l´orateur introduit la démocratie dans ce contexte, parce qu´au fond, il pointe des processus de notre système économique et de la mondialisation.
„Les autres“ – ressortissants de cultures non-européennes, les gens de la migration, ne sont pas des partisans d´un parti opposé qu´on pourrait combattre dans une joute politique. Ils sont là. Ils ont un autre arrière-pays culturel, d´autres vécus et expériences, d´autres histoires et traditions, d´autres imaginaires.
Il ne sert à rien de nier leur existence en tant qu´ individus pensants
Un discours qui nie l´autre est juste un échec de communication.
Un discours qui ridiculise la démocratie comme celui de Monsieur Finkielkraut est dangereux, n´a rien de vertueux, il est néfaste.
La communication avec tout-le-monde est incontournable.
Oui, pourquoi donc pas, „Bon appétit, tout le monde!“