Poetischer Marathon

Paris, 0ß.09.2024  Es war ein denkwürdiges Ereignis bei den Olympischen Spielen von 2024.

In einer gastlichen Atmosphäre und mit einem Programm mit klangvollen Namen sind französisch-sprachige und US-amerikanische Dichter und Dichterinnen in einen Boxring gestiegen. Der war am Rand des Platzes vom Châtelet aufgestellt, im Zentrum von Paris, das Ganze fand am Samstag, 7. September statt. Um den Ring waren Reihen von Sitzen angeordnet wie es etwa in der Salle Wagram üblich ist, dahinter gab es sogar Liegestühle für Zuhörerinnen, die dabei in den Himmel schauen wollten. Es fing am Nachmittag an und dauerte bis Mitternacht, auf diese Weise sollte die poetische Flamme von Paris an Los Angeles, dem nächsten Austragungsort der Spiele, weitergegeben werden. Als Pate stellte sich Alain Mabanckou zur Verfügung, ein auch in Deutschland bekannter Autor, der halb in Paris und halb in L.A. lebt. Aber auf keinen Fall darf man die Patin vergessen, die das gesamte Programm so wunderbar organisiert hat, mit großen Screens auf denen auch die Namen der Dichterinnen und Vortragenden standen und wo stets Untertitel mitliefen. Marie-Florence Candassamy ist eine Tänzerin, und sie scheint auch mit poetischem Esprit und dem Mut einer Olypionikin gesegnet zu sein.
Ausnahmslos jede Auftretende nahm die Olympischen Spiele zum Anlass, und aufs Korn, wenn man so will, mit der gehörigen Distanz der Dichterin und der Intellektuellen gegenüber sportlichen Leistungen.
Ich möchte Fanny Taillandier herausgreifen, sie kam mit ihren beiden Brüdern, Antoine und Louis. Die Burschen begleiteten ihre Schwester mit Elektro-Perkussion und Bassgitarre bei ihrem etwas rauchigen Gesang. In ihrem Text ging es mehr um den Fernsehzuschauer in seiner Anstrengung, ein mentales Gleichgewicht zu halten:
„Ich sitze vorm Fernseher: Es geht gut.
Ich treibe Sport ohne meinen Nabel zu rühren …
„Bleib fokussiert!“ Der Jargon der Sportsendungen, wiederholt wie eine Leier  – man denkt unwillkürlich an das, was in unserem Alltag verdrängt wird. Nicht einmal notwendig, zu benennen, was auf uns eindrängt – Krieg, Krisen, Migration, Klima. Fanny Taillandier endet dann mit einer langen Liste derjenigen, die genau in diesen Situationen widerstehen, die Frauen, die unsichtbar bleiben und nicht genannt werden:   “ Die Frauen, die das Kopftuch tragen,
Die Frauen, die das Fenster ihrer bombardierten Wohnung suchen …“
Ein begeistert applaudierter Auftritt und eine eindeutig politische Behandlung der Spiele in unserer Gegenwart.

Einer der Poeten aus L.A. ist Steve Connell. Er steigt in den Ring, schon das erfordert eine gewisse Sportlichkeit, und berührt als erstes die darum herum gespannten Schnüre, sie sind echt, er ist wirklich in Paris. Sein Thema ist: „Do you want to be great?“ Doch beginnt er mit dem Neugeborenen, das alles daran setzt, um Laufen zu lernen – der erste Akt sportlicher Leistung, der allen gemeinsam ist. Steve Connell fühlt sich wohl in seiner Sprache, die variantenreich pendelt zwischen Rap, Slam und theatralischem Sprechen von hoher Musikalität. Er nimmt in seinen boxerischen Ausweichbewegungen die ganze Arena ein, beginnt mit einer Improvisation und liest ein Gedicht, wobei jedes einzelne Blatt danach durch die Luft zu Boden schwebt. Die meisten Auftretenden nutzen diese lässige Geste. Das Streben nach „Greatness“ gehört zu den Olympischen Spielen, aber auch zum MAGA von Trump, der Künstler ironisiert beides, indem er es auf die Taten und Anstrengungen von einem jeden überträgt, angefangen beim Baby.
Er schließt mit dem Satz: „We are all on the same side.“ Klingt schon fast subversiv, heutzutage.

Last but not least will ich Dany Laferrière erwähnen, er tritt zu Beginn des Abends auf, der noch immer angenehm ist, ohne die vorhergesagten Regengüsse. Ein aus Haiti stammender Dichter, der zwischen Port-au-Prince und Paris wechselt, aber ebenfalls in Nordamerika einen Heimathafen hat, in Montréal. Er ist bekannt für seine Romane voller Humor aber mit einem sehr ernsten Kern, wenn er mit ironischer Leichtigkeit über Sex Drugs and Rock& Roll zwischen den Rassen schreibt.
Er ist ein Meister der konkreten Poesie, der Poesie des Alltags, seine Zeichnungen sind auf den Screens zu sehen, und während der ganzen Zeit seines Auftritts hält er mit einem energischen Hüftschwung seinen Hula Hoop in Bewegung, ohne zu ermüden. Der Reifen als Konkretion der Olympischen Ringe, in seinem Text lotet er diesen Raum aus.
Dany Laferriére hatte die Besucher im Mai schon zum Tanzen gebracht, bei der Ausstellung seiner traumartigen, feinsinnigen und dabei fast naiv wirkenden Zeichnungen auf dem Pont des Arts. Er war mit seinem Reifen auch vor dem Straßburger Münster aufgetreten (wir sehen einen Videoausschnitt).
Ein poetischer Athlet und eine athletisch-fitte Poesie für unsere Zeit.
Der Hula Hoop aus Plastik sei angeblich in den 1960er Jahren in L.A. erfunden worden, aber wirklich ersonnen wurde er vom Dichter Bashô, indem er ein Bambusrohr zum Reifen bog, er ist der Pate von Dany Laferrière.

 

 

 

Beate Thill

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