Tag Null

Paris, 07.07.2024  Früh am Morgen ist es still, kein Verkehr, nur wenige Leute auf der Straße, Ältere, Frühaufsteher, die mit zögernden Schritten in verschiedene Richtungen gehen und ich muss weiter rätseln, wo das nächste Wahlbüro ist. Die Pariser hatten bis spät in die Nacht gefeiert.

Bei meinem Spaziergang zur Mittagszeit erfuhr ich von einer Passantin, dass dieser Teil der 20. Arrondissements von Paris im ersten Wahlgang schon einen Kandidaten der Sozialisten gewählt hatte,   „wir sind schließlich in Paris“, fügte sie hinzu.
Gestern Abend wollte ich wegen der Anspannung den Abend in einer guten Atmosphäre verbringen und fuhr zu dem Festival Polykromy in der Banlieue Sarcelles, wo ein Sufi-Orchester spielen sollte.
Dazu musste ich einen Vorortzug RER nehmen, was für mich schon ein Abenteuer ist, ich bestieg eine Karrosse, die mich an die Züge in Kuba erinnerte, die dort „rote Hölle“ und „blaue Hölle“ heißen. Die RER-Züge haben nicht nur Waggons, die aus einer frühen Ära der Eisenbahn zu stammen scheinen, auch die Außenanlagen der Linie passen dazu, klobige, zu groß geratene Bahnhöfe, Treppen aus Massivbeton und Gefängnisbahnsteige – die Anlagen scheinen wie für den Bürgerkrieg vorgesehen, um die Massen von der Miliz besser kanalisieren zu können.
Ich habe den Platz vor dem Rathaus von Sarcelles, wo das Festival stattfinden sollte, nicht sogleich entdeckt. Ich wanderte einige Zeit an den betonierten Fahrstreifen mit breitem Rand, daneben, etwas tiefer lagen Wohnblocks auf beiden Seiten, wieder kamen Erinnerungen an Kuba auf, der abgenutzte Rasen, die Leute, zumeist Schwarze, kamen und gingen im Abendlicht. Kuba ist für mich eine sehr angenehme Erinnung, mir hat die Insel sehr gut gefallen, sie hatte viel Charme trotz des einfachen Lebens, eine Solidarität unter den Leuten, die sich auch auf uns Besucher erstreckte, mit einer gewissen afrikanischen Zärtlichkeit. In Sarcelles ging ich dann im Zentrum, das sich an einer vierspurigen Durchgangsachse entlangzog, in einen Laden. Hinter einer Auslage mit vielen Früchten befand sich ein  kleiner Supermarkt mit einer Schlange älterer Männer. Hier kauften nur Männer ein, die Stimmung war recht patriarchal und ich dachte mir, es gab sicher eine feste Hierarchie, die ich nicht kannte. Der wortkarge Besitzer kaute mühsam auf einem äußerst zähen Kaugummi oder Tabak herum und nahm mit strengem Wink die Kunden an die Reihe. Am anderen Ende des Tresens war eine weitere Schlange von Männern, dort saß der Sohn und schickte Geldanweisungen der Kunden mittels eines einfachen alten Handy in alle Welt. Zum Glück machte mir einer der Männer am Kopf der Schlange vor der Kasse Platz, damit ich meine Flasche Wasser zahlen konnte.
Sarcelles in der Pariser Banlieue, Afrika, Kuba, Zeiten des Patriarchats, die ich vergangen glaubte und die noch in Nischen weiterbesteht. Auf dem Platz des Festivals, das an diesem Abend den  Maghreb auf dem Programm hatte, war eine schon große Menge versammelt, auf Stühlen, die im Halbrund aufgestellt waren vor einer Bühne wie für ein Rock-Konzert, es waren wohl hundert Kinder aus allen Altersstufen und Weltgegenden, mit ihren Geschwistern und Eltern zugegen. Außer mir und dem alten  Paar, das neben mir saß, waren nur wenige Europäerinnen im Publikum, zu meiner Linken hatte ich eine Schar kleiner Mädchen im Alter von vier bis zehn Jahren in einer bunten Mischung.
Nach der kurzen Einlage eines afrikanischen Erzählers mit der Begleitung einer Kora, war die erste Aufführung das Balafon-Konzert eines Kinder-Workshops unter der Leitung von Lansiné Kouyate: dreißig Kinder zwischen sechs und vierzehn standen an  einem Balafon und spielten mit großer rhythmischer und harmonischer Präzision leichte Stücke zur Begleitung des Meisters, der auf seinem eigenen Instrument die Melodien zum Besten gab. Das war schön und bewegend. Der Höhepunkt des Abends war für mich anschließend ein kurzes Konzert von Lansiné Kouyate auf seinem wundervoll klingenden Balafon.
Dieser Abend war wirklich ein Fest der Gastlichkeit zwischen den Leuten, vermittelt über die Kulturen und die Musik.
Zurück in Paris stand die Metro um Mitternacht still, bis auf eine einzige waren alle Linien blockiert. Als Grund wurde der Schwächeanfall eines Fahrgastes zwischen der Station Châtelet und Arts et Metiers angegeben, vielleicht war es auch die Generalprobe für den heutigen Abend, an dem nach der Verkündung der Ergebnisse mit Krawallen gerechnet wird. Angeblich wurden im ganzen Land 30 000 zusätzliche Sicherheitskräfte aufgestellt, um für Ordnung zu sorgen.
Gegen ein Uhr bekam ich einen Bus, der mich bis in die Nähe meiner Unterkunft brachte, auf dem Weg wurde überall noch gefeiert.

Beate Thill

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