Racine im Quadrat

Paris, 18.11.2022  Das Theater-Event dieses Herbstes in Paris ist ein Werk in drei Stücken von Wajdi Mouawad im Théâtre de La Colline. Man kann sie hintereinander weg ansehen, es dauert sechs Stunden. Ich habe diese Erfahrung auf mich genommen und es überhaupt nicht bereut.

Der Titel im Französischen Racine carrée du verbe être heißt auf Deutsch „Quadratwurzel des Verbs Sein“, er weist auf den metaphysischen Gehalt, der durchaus präsent ist, aber auch auf die „Wurzel“ – und das Theaterwerk befasst sich tatsächlich mit den Wurzeln von Bäumen, aber vor allem auch von Menschen aus dem Libanon, die vor den politischen Explosionen in Serie aus ihrem Land geflohen sind. In dem Stück haben die Protagonisten immer den selben Namen, Talyani Waqar Malik, aber ihre Schicksale und ihr Leben in dem europäischen Exil nehmen sehr verschiedene Richtungen: ein Talyani ist Naturwissenschatler und Professor, ein anderer Taxifahrer, und die jeweiligen Ehefrauen oder Partnerinnen spiegeln in ihren Rollen die entsprechende Gesellschaftsschicht.
Der erste Teil beginnt mit einer gigantischen Explosion der Bühne, jene Explosion im Jahr 2020 darstellend, als ein riesiges Nitratlager in der Nähe des Hafens in die Luft flog, das „Viertel der Cafés“ von Beirut mit sich riss und 215 Todesopfer forderte. Die Zuschauerin kauert sich geschockt in ihren Sessel, ist aber zugleich angetan von der ästhetischen Wirkung, die sich offenbar durch Simultanität eines animierten Videos von einer Explosion und ohrenbetäubendem Theaterdonner und -blitzen gewinnen lässt. Der gesamte erste Teil ist durchzogen von immer neuen Explosionen, die jeweils einen Talyani mit seiner Familie (Frau und zwei Kinder) das Weite suchen lässt.
Ich sehe auch eine Parallele mit Jean Racine, dem Theaterklassiker der Franzosen, nämlich in der Schärfe und zuweilen Grausamkeit, mit der die Figuren auf der Bühne den Charakter der anderen, aber auch der Gesellschaft analysieren, die sie in Europa aufgenommen hat. Mouawad zeichnet hirt auch ein Bild vom Exil. Er wendet sich an Zuschauerinnen, die in einem Theatersessel sitzen können (in La Colline ist er begrenzt komfortabel) und Wälder mit Bäumen haben, die unter Napoleon im Jahr 1811 gepflanzt wurden, und setzt sie Explosionen in der fernen Welt aus, die ihnen jene Talyanis schicken, die sich abkämpfen und im eigenen Land nichts haben, was lange überlebt.
Die Schauspieler sind wunderbar, das Gesamte ist wie eine Choreographie von Fäden, die entwirrt werden, um sich am Schluss anders wieder zu verknüpfen. Es gibt poetische, immersive Momente, wie der Beginn, wo ein neunjähriger Junge mit einem alten Mann an einem kleinen Tisch sitzt und mit ihm über Mathematik diskutiert. Im Theaterheft wird der metaphysische und mathematische Hintergrund hervorgehoben, ich wollte hier mehr auf die Narration eingehen, mit ihren klug gesponnenen Fäden.

 

Beate Thill

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