Paris, 18.01. und Freiburg, 27.01.2023 Proust hat offenbar selbst gemeint, dass von seiner Recherche die vier ersten Bände und der letzte mit dem Titel Die wiedergefundene Zeit unbedingt zu lesen seien.
Da dieser Titel den Eindruck erweckt, es seien in dem Buch alle Probleme gelöst, die der Erzähler in seinem früheren Leben ausgebreitet hat, meinte ich lange, dass die Zeit für diese Lektüre für mich noch nicht gekommen sei.
Ich spreche nie über mein Alter, nur über „mein Leben“, die Zeitlichkeit fließt hinein und für mich verbunden mit einer tiefen Dankbarkeit. „Das Leben“ umfasst alle Grundlagen der Persönlichkeit, der Seele, will man diesen aus der Mode gekommenen Ausdruck wieder bemühen, alle erlebten Momente mit ihren vielfältigen Ressourcen, von der Kindheit bis in die Gegenwart. Die Vorstellung vom Leben umgeht so die vom Alter, die ich als normativ und verallgemeinernd empfinde, gerade in der heutigen Zeit. Ich spreche lieber von Momenten des Lebens und der „Zeit im Leben“ („time of life“ wie Virginia Woolf).
All diese vermischten Fragestellungen werden von Proust behandelt, und dazu voll Intelligenz, Lebenskraft, Gefühl und Menschlichkeit von allen Seiten beleuchtet.
Die wiedergefundene Zeit ist ein Text über das Erleben der Gesellschaft und eine tiefgreifende Erörterung der Zeit und des Lebens in den Fragestellungen der Literatur.
Ich empfehle die Lektüre des Romans vor allem aber wegen ihrer Aktualität! Proust erzählt vom Ersten Weltkrieg als wären wir mittendrin. Er geht nachts durch die wegen der deutschen Angriffe abgedunkelten Straßen. Er gibt die Diskussionen, die verschiedenen Stellungnahmen wieder aus den Kreisen, die er „die feine Welt“ nennt, das sind jene mehr oder weniger gebildete Mitglieder des Adels und des Bürgertums, die das Personal seiner Romane stellen. Ihre Reden erinnern verblüffend an unsere Debatten über den Ukraine-Krieg. Die Leserin gewinnt den Eindruck, dass die Figuren sich erregen, sorgen und streiten über einen Gegenstand, den sie intellektuell nicht begreifen können, bei dem sie keinerlei Zugriff, keiner Handlungsmöglichkeit haben. Wie bei uns kommen einem diese Diskussionen vergeblich, ja lächerlich vor. – Es handelt sich um einen Krieg!
Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Frankreich scheint viel von unserer Zeit vorwegzunehmen. Wir haben es bereits jüngst bei dem Film über Verlorene Illusionen von Balzac gesehen, der den Beginn der „Mediatisierung“ aufgegriffen hat und lebendig werden ließ, ähnlich wie wir sie kennen. Die beiden Romanautoren Proust und Balzac hatten sich für die gesellschaftlichen und politischen Fragen interessiert, die letztlich ethische sind, die ihre Zeit mit dem Verhalten und den Diskursen der Gesellschaft aufgeworfen hat.
Bei Proust in Die wiedergefundene Zeit[1] geben die Stellungnahmen seiner Figuren verschiedene Nuancen des Nationalismus, des Chauvinismus und des Hasses auf den Anderen wieder, in diesem Fall gegen den Feind Deutschland, die „Boches“. Es kommen die verschiedenen Diskurse der Personen in seinem Haushalt und von der Straße hinzu, die man heute als „populistisch“ bezeichnen würde. Zum Beispiel die Streitigkeiten zwischen dem Butler und Françoise. Wenn dieser die Köchin mit seinen Ansichten beeindrucken will, spricht er von einem „man“, in dem Regierung und Presse zusammengefasst sind: „Man erzählt uns jetzt viel von den Verlusten der Boches … „ (S.223) Aber Proust versucht Einordnungen und Stellungnahmen zu diesen Fragen zu vermeiden. Wir erkennen, übrigens gleichzeitig mit dem Erzähler selbst, wie diese Vermeidung uns dem wirklichen Leben, der „Wahrheit“ viel näher bringt.
Im Roman gibt es eine lange Szene in der Biblothek des Fürsten von Guermantes, wo der Erzähler das Ende eines Musikstücks abwartet, das im Salon gespielt wird. Mit einem Mal kommen ihm Rückerinnerungen an Begebenheiten aus seinem vergangene Leben wieder ein, die mit winzigkleinen materiellen Empfindungen beladen sind, die sein Körper „eingelagert“ hat: der Stoff einer Serviette an seinem Mund, ungleiche Pflastersteine unter seinen Füßen. „ … ganz als ob unsere schönsten Ideen Melodien glichen … Ich erinnerte mich mit Vergnügen daran, weil es mir zeigte, dass ich damals schon der gleiche war und weil es einen grundlegenden Zug meiner Natur aufdeckte.“ (S.275)
Diese Rückerinnerungen geben ihm „die Freude einer wiedergefunden Wirklichkeit“.
Der Text beschreibt den Versuch, diese Impressionen als Zeichen, die „zufällig, unentrinnbar“ sind, in einem Vorgang schriftlich niederzulegen, der das Kunstwerk hervorbringt.
Schreiben, so findet er nun, heißt „sich zu zwingen, diesen Gefühlseindruck alle aufeinanderfolgenden Zustände durchlaufen zu lassen, die schließlich zu seiner Fixierung, zum Ausdruck, führen.“ (S.281)
Dann dieser Satz, der mich als Übersetzerin anspricht:
„So bemerkte ich, dass ein großer Schriftsteller dieses wesentliche Buch nicht im landläufigen Sinn erfinden, sondern, da es in jedem von uns bereits angelegt existiert, übersetzen muss. Pflicht und Aufgabe eines Schriftstellers sind die eines Übersetzers.“ (S. 294) Ich bin überzeugt, dass Walter Benjamin, ein großer Kenner des Proustschen Werks, diesen Satz im Sinn hatte, als er seine berühmte Schrift „Die Aufgabe des Übersetzers“ niederlegte.
Das poetische Genie scheint mir aus den allerersten Eindrücken zu schöpfen, aus der Frühzeit des Kindes vor der Sprache, als es jedesmal von der eigenen Wahrnehmung beglückt erscheint, wenn es ein Phänomen entdeckt, das ihm wie durch Magie präsentiert wird.
So scheint Proust in dem Vorgehen, das er beschreibt, an die Quelle zu gehen, wo die Person noch eins ist mit ihrer Wahrnehmung, in einer Fusion des Seins mit der Welt.
Der Roman Die wiedergefundene Zeit wird zum Prisma von allem, was Proust bis dahin beschrieben und in seiner Literatur behandelt hat. „Das wahre Leben, das endlich entdeckte und erhellte, das einzige infolgedessen von uns wahrhaft gelebte Leben, ist die Literatur.“ (S.301)
[1] Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd 7: Die wiedergefundene Zeit. Üb. Eva Rechel-Mertens u. Luzius Keller, Frankfurt (Suhrkamp) 2002
Bald erscheint dieser Blog in einer anderen Form
Nach der langen Zeit kann ich nicht mehr behaupten, über eine „Lehrzeit in Paris“ zu schreiben.
Doch ich werde weiter aus dem Leben der Stadt und über Debatten von beiden Seiten des Rheins berichten.
Beate Thill