Paris, 06.06.2023 Für heute wurde von den französischen Gewerkschaften und Verbänden zum vierzehnten Mal ein Aktionstag gegen die von der Macron-Regierungen geplanten und ohne parlamentarische Debatte und Abstimmung durchgezogenen Reformvorhaben festgesetzt. Es steht nur noch am kommenden Donnerstag das Durchwinken im Parlament an, denn dessen Präsidentin hat vor, den Verfassungszusatz 40 anzuwenden, der jede Erörterung und jedes Aushandeln, etwa von eingegangenen letzten Änderungsvorschlägen der Opposition, auszuhebeln vermag, falls diese den Haushalt gefährden könnten.
Der heutige Tag beginnt in aller Frühe mit einem Banner an der Fassade des ehrwürdigen Hotel de Ville, auf dem mit Emojis die Solidarität des Rathauses mit der Protestbewegung ausgedrückt wird, die am Nachmittag einen ihrer großen Demonstrationszüge durch die Stadt plant. Die sozialistische Bürgermeisterin, Anne Hidalgo, ist um 8 Uhr bei den Frühstücksnachrichten des Staatsradios France Inter zu Gast, das immer mehr zu einem solchen wird, wie ich beobachte. Ihr wird von der Interviewerin recht spitz vorgehalten, dass ihr ein Gerichtsentscheid solche Bekundungen verboten hat.
Doch Frau Hidalgo kann daran nichts Schlimmes finden, schließlich sei das kein Text. Hingegen führt sie ins Feld, dass gerade am Vortag der Stadtrat von Paris mit überwältigender Mehrheit einen Investitionsplan verabschiedet hat, um die Dekarbonisierung bis 2050 und die Anpassung an die Klimaerwärmung für die Kapitale zu verwirklichen. Unter anderem sollen 300 weitere Hektar Grünflächen angelegt werden, sie spricht von 10-15 neuen Parks. Auch die im nächsten Jahr stattfindenden Olympischen Spiele seien voll im Zeitplan und würden als Motor für den Wandel wirken. Der gesamte Nordosten der Stadt, bisher eher sozial benachteiligt, wird in diesem Rahmen umgestaltet. Die Bürgermeisterin kritisiert, dass solche politischen Ziele auf der Agenda der Staats-Regierung völlig fehlen. Freilich sind die für die Fahrradfahrer reservierten Avenuen im Zentrum, die seit 2019 unter Hidalgos Ägide eingeführt und seitdem stetig ausgebaut wurden, in der Bevölkerung umstritten, was sich bei den heutigen Anrufen in der Redaktion wieder zeigt.
Konfrontiert mit den angeblich so guten Wirtschaftsdaten und dem Erfolg auf dem Arbeitsmarkt und bei der Erholung der Konjunktur für Macron, widerspricht die Bürgermeisterin energisch. Sie kritisiert stattdessen die ultraliberale Politik, die fehlende Umverteilung der gestiegenen Produktivität an die Bevölkerung, die mit hohen Lebenshaltungskosten zu kämpfen hat. Sie prangert den Raubbau an den planetaren Ressourcen an und hält den angeblichen Erfolgsmeldungen entgegen, dass die Regierung für die dringenden Reformen für mehr Klimaschutz und Nachhaltigkeit nur kurzfristige Maßnahmen und Trostpflästerchen bereithält. Sie drückt ihre Furcht vor einer Beschädigung der demokratischen Prozesse durch das Vorgehen der Macron-Regierung aus, davon profitiere nur die extreme Rechte, sprich Madame Le Pen – was sich in den letzten Tagen bei Umfragen erneut gezeigt hat.
Die sozialistische Partei, der Anne Hidalgo angehört, ist gespalten, sie selbst hat sich mit einigen anderen Parteifreunden aus der Linksfront, der sogenannten Nupes, mit Mélenchon gelöst, auch dazu wird sie befragt. Hier kritisiert sie vor allem die Stagnation im Denken, was sich auch im patriarchalen Gehabe des Chefs der Gruppe France Insoumise äußere, sie bekennt sich als Feministin, die einen frischen Wind für die französische Demokratie wünscht. In Le Monde wird heute von einer Klausurtagung einzelner führender Mitglieder der Sozialistischen Partei am Wochenende berichtet, es ging um die Vorbereitung der Europawahl, an der offenbar auch Hidalgo teilnahm, während der derzeitige Sozialistenchef Olivier Faure fernblieb.
Die Punkte, die Hidalgo in ihrem Interview vorbrachte, wurden am Nachmittag auf die Straße getragen, auch dort ging es um die Aussetzung und Schwächung der demokratischen Prozesse, um den radikal neoliberalen Kurs, um das Fehlen echter Maßnahmen zum Klimaschutz und das Versagen der Regierung angesichts der ökologischen Herausforderungen, die ein energisches Umsteuerns verlangen würden. Es handelt sich bei den Protesten in Frankreich nicht nur um die Ablehnung der Rentenreform, sondern um viel grundsätzlichere Anliegen – dies wird in Deutschland viel zu wenig wahrgenommen.
Im Radio wurden die landesweiten Demos heruntergespielt, die Reihen hätten sich „gelichtet“, auch in den Hochburgen wie Lyon seien nur ein paar Tausend auf die Straße gegangen, in Paris waren es immerhin 300 000 (nach Angaben von France Inter), die bei 28 Grad vom Invalidendom zur Place d´Italie zogen.