Ensembles

Paris, 25.09.2023  Der Blog wird immer noch umgestaltet. Als Intermezzo wollte ich ein paar Fotos zeigen,

 

dann geriet ich wie zufälllig in eine Ausstellung im Centre Pompidou, mit dem Titel Corps à Corps, was zunächst „Nahkampf“ heißt, und mit dem Untertitel Histoire(s) de la photographie auf die verschiedene Geschichten dieser Kunstgattung hinweist (bis zum 25.März 2024)
Der quasi militärische Unterton ist von den Kuratoren gewollt, denn sie möchten auf den Aspekt der normativen, administrativen Anwendung der Fotografie hinweisen, um den Einzelnen zu strukturieren und zu kontrollieren. Erwähnt wird hier Michel Foucault und sein sozio-philosophischer Diskurs in Überwachen und Strafen.

Ich habe mir das Zitat von Chris Marker gemerkt, es scheint in diesem Zusammenhang zu stehen, durchbricht ihn aber in einer befreienden Geste. Es steht für die Perspektive der Künstler, die in der Ausstellung versammelt sind: „Fotografie ist der Jagdinstinkt, ohne den Willen zu töten. Eine Jagd der Engel … Man verfolgt, man zielt, man schießt und  … klick! statt die Person zu töten hat man sie verewigt.“

Man denkt an all die Bilder, die auf uns einströmen, die ikonischen Fotos von Heldinnen und Helden aus den verschiedenen Bereichen des Lebens. Das alles ist in der Ausstellung vertreten, doch sie möchte den „Werken eine andere Wirkung geben“ und „das Publikum zum Engagement anregen.“

Die Hängung der Bilder, die gesamte Ausstattung in der Präsentation im Zusammenspiel mit Künstlern aus allen Teilen der Welt, strebt danach, alles zu konterkarieren, was bei der Aufnahme mit einem Fotoapparat gegen Humanität verstoßen und zu Zwängen beitragen würde. Diese Expo bahnt uns einen Weg durch die Anhäufung der Bilder, die auf uns einströmen und orientiert uns in ihrer Bewertung, und dies gelingt in einnehmender und bereichernder Weise.

Wie durch Zufall fand ich dort auch Material zu einem Thema, das mich im Augenblick beschäftigt.

Bei ihren Anfängen, an der Wende zwischen 19. und 20. Jh, hat die Fotografie Bildende Künstler wie auch Schriftsteller inspiriert, da sie neue Mittel zur Darstellung des menschlichen Gesichts zur Verfügung stellte. So nimmt Stanislas Ignacy Witkiewicz, ein polnischer Theaterautor, Pamphletist und Romancier, kurz Witkacy genannt (1885-1939), eine ganze Serie von Autoporträts mit selbstironischen bis grotesken Grimassen auf. Vielleicht waren es diese Bilder, die einen anderen Polen, Witold Gombrowicz, zu der Behauptung brachte, dass wir uns bemühen, den gesellschaftlichen Zwängen, dem Blick der Anderen zu genügen, dass dabei aber nur eine „Fresse“ herauskommt. Dies ist eines der Themen, die er in seinem avantgardistischen Roman Ferdydurke ausbreitet, das war 1938, und sein Erstling machte ihn sogleich in der literarischen Welt bekannt.

Ein Kapitel in der Ausstellung im Centre Pompidou ist mit „Fragmente“ bezeichnet, dies bezieht sich auf die Stückelung der Körper, die durch den fotografischen Ausschnitt und durch die Kadrierung ermöglicht wird. Es können Gliedmaßen herausgegriffen und isoliert dargestellt werden, wie eine Hand, ein Bein. Im Kommentar wird die Fetischisierung in der Darstellung des weiblichen Körpers hervorgehoben, denn in diesen Ausschnitten „wird seine Sinnlichkeit noch stark erhöht.“

Auch der Kubismus scheint mir aus einer Idee der Fragmentierung hervorzugehen, wobei der Körper „auseinandergenommen“ und auf andere Weise im Raum zusammengesetzt wurde.

Gombrowicz (1904-1969), also ein Zeitgenosse des Kubismus, verwendet diese Idee in der Literatur, wo die Hervorhebung von einzelnen Körperteilen etwa eines Beins, der Zehen an den Füßen oder der Nase (wie bei Gogol) infantilsierend, lächerlich, absurd wirkt. Gombrowicz verwendet diesen Effekt, um seine Sicht auf den menschlichen Körper und die Unmöglichkeit, mit dem Körper zu einer Reife zu finden, noch verstärkt. Die ganze Erziehung hat in seiner Sichtweise das Ziel, die Person durch die Integrierung aller seiner Teile zu einem Gesamtkörper unter Kontrolle zu bringen. Wie nach ihm Foucault sah Gombrowicz schon in den Dreißiger Jahren im Versuch der absoluten Kontrolle über die Körper das Übel in der polnischen Gesellschaft und in Europa, das bald darauf im Zweiten Weltkrieg versinken sollte. Ferdydurke war prophetisch und dieser Roman behält durch seine Aktualität und Modernität eine hervorragende Bedeutung bis in unsere Tage.

Das Jahr 2024 wird zu einem Gombrowicz-Jahr werden, in Polen aber gewiss auch in den übrigen Ländern Europas und in der Welt. Wir begehen das 120. Jubiläum der Geburt dieses großen Schriftstellers des 20. Jahrhunderts, der auch für seine Theaterstücke (Yvonne, die Burgunderprinzessin und Die Trauung) wie für sein präzises und dabei überbordendes Tagebuch über literarische Welt seiner Zeit bekannt ist.

Beate Thill

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