Kurz vor dem Siebten

 

Paris, 03.07.2024  Ich wohne jetzt in Ménilmontant, dem Viertel von Edith Piaf, ich war bei meinem letzten Aufenthalt zufällig hergekommen, es hat Hügel und Täler, von einfachen Leuten bewohnt, und doch ein Feinschmeckerquartier, wenn man die vielen Feinkostläden mit gestapelten Lebensmitteln und Spezialitäten sieht, wie auch  in Belleville, nebenan, die Leute diskutieren auf der Straße, es gibt viele Cafés, ich kam mit dem Bus, wie ich bei einem Spaziergang herausfinde, ist die nächstgelegene Metrostation Gambetta. Habe mir die Gegend gerade angeschaut und fühle mich wohl.

Ich schreibe um den heißen Brei herum, um den wahren Grund meiner Reise nach Paris nicht anzuschneiden. In Deutschland hatte ich schwarze Gedanken wegen der jüngsten politischen Ereignisse in Frankreich, die Auflösung des Parlaments durch Macron, mit dem Resultat eines Siegs der Rechtsextremen von Marine Le Pen und ihrem Rassemblement National (RN) bei den daraus folgenden Neuwahlen am 30. Juni. Ich habe Angst, dass die Banalisierung der Gefahr durch die Rechtsextremen bei den Nachbarn, in Deutschland die Stimmabgabe für die AFD noch erleichtert. Ich fürchte auch, dass diese noch faschistischer ist als ihre französische Schwester – was auf beiden Seiten des Rheins für heiße Diskussionen sorgt. Etwa wurde in der Sendung „Die Anstalt“ am Sonntag die AFD auf einer Schautafel weit weit nach rechts verschoben im Verhältnis zu den übrigen europäischen „populistischen Parteien der extremen Rechten“.
Ich nehme diesen Blog also wieder auf, zu einem für unsere beiden Länder entscheidenden Zeitpunkt, und möchte versuchen, meine Eindrücke und Reflexionen zu dem zu notieren, was ich in der Stadt der Lichter sehe und lese …

TAG VIER: Die Parteien und Gruppierungen der Mitte drücken sich um eine Entscheidung, für wen sie eine Wahlempfehlung aussprechen sollen, damit meine ich die restlichen Republikaner (ohne Ciotti und ein paar weitere, die mit RN paktieren), Macron und seine Getreuen ebenso wie eine Gruppe um den scheidenden Premierminister Attal, entscheiden sich nicht eindeutig gegen die Rechtsextremen sondern lehnen gleichzeitig eine Wahl der Linken ab, besonders von Mélenchon und seinem LFI.
Dies ist nicht nur meine Meinung, sondern auch eine der ehemaligen Größen der französischen Konservativen, Jacques Toubon, Minister unter dem Präsidenten Jacques Chirac, äußerte in einem Interview in Le Monde (v. 3.7.) seine scharfe Kritik an seiner ehemaligen politischen Familie der Republikaner, die nun in Auflösung begriffen ist. Er sieht in der häufigen Erwähnung der drohenden absoluten Mehrheit des RN eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: „In Wirklichkeit wird es diese absolute Mehrheit nur geben, wenn die anderen Blöcke es zulassen.“ Auch er ist für eine klare Stellung gegen die Rechtsextremen, ohne Abstriche.
Ich habe an den vergangenen Abenden auch häufiger die Sendung „Le téléphone sonne“ im Radio France Inter gehört, das französische Pendant zu „Vom Telefon zum Mikrophon“, das sich mit aktuellen politischen Themen befasst. Dort meldeten sich auffallend häufig Hörer und Wählerinnen, die zwar unbedingt Rechtsaußen verhindern wollen, aber keinesfalls für den Gegenkandidaten ihres Wahlkreises, etwa von der Sozialistische Partei, stimmen können, weil er ihnen nicht gefällt. Das Wahlvolk tritt offenbar ebenso von einem Bein auf das andere wie die scheidende Parlamentsmehrheit, die mit ihrem „Weder Rechtsaußen – noch Linksaußen“ krachend gescheitert ist. Dieses „Ni-ni“ hatte mich schon immer fatal an die Weimarer Republik der 1930er Jahre erinnert, wo diese Gleichsetzung der Rechten mit den Linken den Aufstieg Hitlers ermöglichte. Freilich gab es noch aufrechte Hörerinnen und Hörer, die sich eindeutig am Telefon äußerten, nämlich gegen den RN stimmen zu wollen. Aber die um sich greifende Ambivalenz vor der Stichwahl am Sonntag bereitet mir Bauchschmerzen.

Beate Thill

19&Quel$aragraphe

Kommentare sind geschlossen.