W.G. Sebald auf der Pariser Bühne

Paris, 26. Januar 2024  Am Odéon, „Théâtre de l´Europe“ wurde jüngst ein Stück des polnischen Theaterautors und Regisseurs Krystian Lupa uraufgeführt, es basiert auf zwei Texten aus der Novellensammlung „Die Ausgewanderten“ von W.G. Selbald (1944-2001). Ich möchte einige Impressionen von einem Theaterabend dieser Woche wiedergeben, mich hatte besonders interessiert, wie Lupa die charakteristischen Stimmungen und die Atmosphäre in der Literatur von Sebald auf die Bühne bringt. Die Narration ist ausgreifend, wie üblich bei Lupa, das Stück dauert 4 Stunden 15 Minuten. Doch in der Pause nach zwei Stunden verließ nur ein kleiner Teil des Publikums (ca 10%) das Theater durch das große Portal, was schon ein Erfolg ist, denn den Zuschauenden wird einiges an intellektueller und emotionaler Beteiligung abverlangt.
Neben den auf der Bühne live gespielten Szenen werden auf dem transparenten Bühnenvorhang Filmszenen auf Video wie ein Palimpsest darübergelegt, teilweise geht der Fokus zwischen beiden Darstellungen hin und her. Die Videos seien „ein Kontrapunkt“ zum Spiel auf der Bühne, sagt der Regisseur (in einem Interview des Programmhefts), sie dienten auch dazu, um literarische Elemente wiederzugeben, die das Theater nicht zeigen kann, wie Landschaften, Rückblenden und Visionen des Erzählers. Dessen innerer Monolog hingegen wird tatsächlich von dem Erzähler gespielt, und zwar in beeindruckender Weise von Pierre Bauderet als Sebald. Dies betrifft den ersten Teil mit der Geschichte von Paul Bereyter, die diesen Sebald umtreibt. In der Kindheit hatte er Bereyter als seinen Lehrer geliebt, Jahrzehnte später erfährt er von dessen tragischem Ende durch Selbstmord. Er findet heraus, dass dieses Ende in einer Weise mit der Jugendliebe von Paul zu einer jungen Jüdin in den 1930er Jahren verbunden ist, zu einer Zeit, als er sich für den Lehrerberuf entscheidet. Diese Helene Holländer verlässt ihn wegen dieser unkritischen Nähe zu den Nazis, man erfährt, dass sie später im KZ ermordet wird. Doch wie Bereyters Tod damit zusammenhängt, das ist eine der ungreifbaren Tatsachen, die Sebald in seinen Geschichten kreist und doch offen lässt. Lupa versucht mit seinen Mitteln mehr Licht hineinzubringen.

Der zweite Teil spielt etwas früher, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, und dreht sich um die Geschichte des Großonkels von Sebald, Ambros Adelwarth, der in die USA auswanderte und dort für eine reiche New Yorker Familie, die Solomons, arbeitete. Er wird als Butler und Beschützer dem jungen Cosmo zur Seite gestellt. Was in der Novelle nur in wenigen Strichen angedeutet wird, ist bei Lupa auserzählt, nämlich die homosexuelle Liebe zwischen Cosmo und Ambros, und dies gelingt auf überzeugende und berührende Weise. Der zerbrechliche und hypersensible Cosmo driftet allmählich in die Psychose ab, unter anderem von Visionen heimgesucht, die das Schicksal der Juden prophezeien.
Lupas Stück bringt eindrücklich auf die Bühne, wie die Figuren in einer entscheidenden Lebenssituation angstvoll dem entgegensehen, was vor der Tür steht und bald eintreten wird, die Unmenschlichkeit der Nazis und die tödliche Bedrohung durch die Shoah damals, und der Antisemitismus und die Politik der Rechtsextremisten heute.
Auch wenn das Stück und die Inszenierung stark emotional aufgeladen sind, macht Krystian Lupa hier politisch engagiertes Theater mit einer deutlichen Warnung. Schließlich konnte er unter der PIS-Regierung in Polen nicht mehr arbeiten, durch eine große Anstrengung der Zivilgesellschaft wurde sie abgesetzt und die Gefahr noch einmal abgewendet. Aber überall in Europa sehen wir die Zeichen der Bedrohung.
Lupa leuchtet außerdem die Vorstellungswelt von Sebald in ihrer Tiefe aus, mit den typischen Figuren, die häufig Gemarterte, Verzweifelte sind und am Ende in der Umnachtung versinken. Indem Lupa die Rollen der Erzählerinnen herausarbeitet, in all ihrer Empathie für die Gequälten, macht er mit seinem Stück anuch klar, was psychische Erkrankung bedeutet und was sie für die Begleitenden impliziert. Auch mit diesem Eintreten für Menschlichkeit sehe ich eine Stellungnahme gegen Hass und Unmenschlichkeit, die heute wieder um sich greifen.
Das Publikum verfolgte das Geschehen mit höchster Aufmerksamkeit, ließ sich einfangen und ging emotional mit, ein schöner Erfolg und ein hochinteressanter Abend.

 

Beate Thill

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