Neue Episoden 2021

Die Republikanische Meritokratie

Paris, 05.11.2021  Der Ausdruck ließ mich aufhorchen, er bezeichnet beispielsweise einen aus dem ruralen Frankreich stammenden Schriftsteller, der sich bis zu den höchsten Höhen der französischen Intelligenz hat aufschwingen können. Die Rede ist von Daniel Roubaud, der aus einer Familie von Weinbauern und Lehrern aus der Champagne stammt, und der gestern feierlich in die Académie Française aufgenommen wurde. 1968, mit Zwanzig, war er ein militanter Linker, dann weiterhin sehr aktiv, bei der Zeitung Libération und in der Diplomatie (Malta), außerdem engagiert er sich seit Jahrzehnten für den Libanon.

In seiner Dankesrede beginnt Roubaud mit eher nationalistischen Anklängen, gefolgt von einem ausgedehnten Name-dropping über die vielen Akademiemitglieder, die er gut kannte, bevor man ihn erkor. Im Zentrum seiner Rede steht dann Michel Déon, das ist ihm Privileg und Pflicht, denn er selbst wurde auf Déons Sessel in der Akademie gewählt, den Fauteuil Nr 8. Die Tradition der Akademie will es, dass die Jungfernrede dem Vorgänger auf dem Sessel gewidmet ist. Die Aufgabe ist nicht leicht, denn Michel Déon war vor dem 2.Weltkrieg in der profaschistischen Action Française gewesen, die Vichy gewissermaßen vorbereitet und unterstützt hat. Dazu hatte der Protagonist der Bewegung und bekennende Antisemit Charles Maurras den jungen Déon maßgeblich protegiert.
Dem neuen Akademiemitglied gelingt es in bewundernswerter Weise, die Zerrissenheit darzustellen, die Michel Déon er nach dem Krieg, ja bis zu seinem Tod 2016 in Irland, empfunden hat, und die sein literarisches Werk prägte. Aber jene Abschnitte, die Roubaud Wirken und Werk von Charles Maurras widmet, kamen mir vor wie ein Plädoyer für den Verfemten (seinen Sessel in der Académie durfte er nicht mehr einnehmen). Das schien mir zu den erneut nationalistisch gefärbten Einlassungen gegen Schluss der Rede zu passen.
Es ist ein Phänomen, das ich aus dem linken Milieu in Deutschland kenne. Noch ein Linker, der zur Elite gehören will und meint, um zu zeigen, dass er es verdient, müsse er eine Unterwerfungsgeste machen. Stellt er sich wirklich vor, dass diese Elite national gesinnt und ein bisschen antisemitisch ist? Für die Académie Française gilt das jedenfalls nicht, sie ist eher offen für alle anderen auf der Welt, die Französisch sprechen und schreiben. Oder will Roubaud zeigen, dass er seine Ursprünge endlich hinter sich gelassen hat?

Danièle Sallenave bezeichnet Roubauds Herkunftsmilieu in ihrer Laudatio als „einfach, bescheiden“, obwohl sie selbst Tochter von Lehrern und „noch in einem vorwiegend ruralen Frankreich geboren ist“, wie sie selbst sagt, ebenso wie der ganz überwiegende Teil ihrer Generation.
Genau das ist die Republikanische Meritokratie, vor ihrem Aufstieg habe ich den größten Respekt. Doch glücklicherweise beginnt gerade eine Zeit, in der die Herkunft immer weniger zählt …

Beate Thill

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